Eine ganze Welt in einem gewaltigen Buch! Das ist der erste Eindruck, wenn man das Opus Magnum in die Hand nimmt, das Prof. Dr. Rüdiger Döhler Masoviae Königsberg und Georg v. Klitzing Albertinae herausgegeben haben.
Bei dem doppelbändigen Werk „Die Albertina und ihre Studenten 1544 bis WS 1850/51 und die Geschichte des Corps Baltia II zu Königsberg i.Pr.“ handelt es sich um einen zentralen Teil des literarischen Nachlasses von Siegfried Schindelmeiser Baltiae Königsberg, der von 1901 bis 1986 lebte. Wie wichtig dieses Werk ist, beweisen schon die Vorworte – eines davon ist vom Preußenprinzen Franz-Friedrich.
Ein Monumentalwerk. Von den Karolingern angefangen nimmt Schindelmeiser die Leser mit durch die Jahrhunderte, erläutert die Grundlagen. Ausführlich die Schilderung des alten akademischen in Königsberg, insbesondere der Orden und Kränzchen als geistiger Grundlage der Corps, ebenso aber der allgemeinen Burschenschaft, schließlich der neuen Landsmannschaften. Die teils unübersichtliche Gemengelage wird in den Schilderungen Schindelmeisers transparent. Damit wird eine untergangene Welt vor dem Vergessen bewahrt, aber es wird auch vorbildhaft für andere Städte geschildert, wie es andernorts zugegangen sein mag. Besonders inbrünstig wird bekanntermaßen oft besungen, was untergegangen ist.
Nach diesem ersten Teil über die Albertina folgt, nicht weniger ausführlich, genauso detailliert, für den korporierten Leser sogar noch faßbarer und interessanter, die Geschichte des Corps Baltia II. Diese Corpsgeschichte, die für sich genommen so gehaltvoll ist, daß man im Kösener lange nach Vergeichbarem suchen muß, wurde in sieben Heften geliefert. Teil 6 davon erschien nie offiziell, da Schindelmeiser quasi über der Durchsicht des fertigen Textes verstarb. Für praktisch alle Leser war dieses Heft de facto unerreichbar. Auch dies ist ein Aspekt der Entstehungsgeschichte dieses Buches; sie ist übrigens ist im zweiten Band auf den Seiten 487 bis 491 nachzulesen, im Rahmen einer biographischen Skizze zu Siegfried Schindelmeiser. Dort sind diese Angaben zu versteckt platziert, die Leistung der Herausgeber hat mehr Aufmerksamkeit verdient.
Teil 1 der Corpgeschichte der Baltia II behandelt die ersten zwei Jahrzehnte von 1851 bis 1871, ausführlich werden Stiftung und Etablierung eines jungen Corps geschildert. Teil 2, betreffend die Jahre 1871 bis 1890, behandelt die allmähliche Änderung der Stimmung hin zum Wilhelminismus, die Bebilderung dieses Abschnitts spricht für sich – weder Wilhelm I. noch Wilhelm II. Borussiae Bonn fehlen. Der Autor hat das Heraufziehen der neuen Zeit seismographisch aufgespürt. Der Dritte Teil und damit die Jahre 1890 bis 1901 sind logisch folgend als „das wilhelminische Zeitalter“ übertitelt. Im Teil 4, der die folgende Dekade bis 1911 umreißt, fällt das so bunte wie blühende Bild im Königsberger Corpsstudententum auf. Damit endet der erste Band.
Der
zweite Band beschreibt fast ausnahmslos Zeiten der äußeren Gefährdung
bis hin zum sich abzeichnenden Untergang des ostpreußischen Landes, aus
dem sich die Albertina und ihre Corps speisten. Wie eng die politische
Entwicklung zunehmend mit derjenigen der Universität verzahnt war, wird
deutlich an der Schilderung der Stimmung am Vorabend des ersten
Weltkriegs, mit der Teil 5 und damit der zweite Band des von Döhler
organisierten Opus Magnum beginnt. Gerade diese Passage ist im Grunde
auch eine Essenz der deutschen Geschichte – das gilt zwar in langen
Passagen für das ganze Werk, hier aber wird es besonders deutlich.
Insgesamt umfaßt dieser fünfte Teil die Jahre 1911 – 1916, und damit
auch die ersten Kriegsjahre. An sein Ende haben die Herausgeber eine
eindrucksvolle Rede zur Totenehrung anläßlich des oKC 2007 gesetzt, die
Wiesner II Franconiae-Jena dort gehalten hat. Eine ernste und zugleich
schöne Geste, die dem Buch zusätzlich Relevanz verleiht.
Besondere Aufmerksamkeit,
gerade auch seitens kundiger Leser, wird Teil 6 der Corpsgeschiche der
Königsberger Balten gelten. Zurecht! Die Schilderung der Jahre 1916 bis
1923 ist eine Erstveröffentlichung, und die Lektüre ist spannender als
jeder Krimi, denn hier geht es um reale, um erlebte Geschichte. Der
Fortgang des Aktivenbetriebs, der kriegsbedingt eingeschränkt war, tritt
eindeutig in den Hintergrund gegenüber der Schilderung der
schicksalhaften Jahre für ganz Ostpreußen. De Charakter einer Essenz aus
der Geschichte ist hier eher noch deutlicher als im vorangegangenen
Teil zu spüren, Vielfach unterschätzt ist die Wichtigkeit dieser Jahre
für das, was ab dem Winter 1944/45 geschah – aber in diesem Werk wird
das völlig evident, ebenso wie die Untrennbarkeit eines Gesamtvorganges,
der allerspätestens ab Tannenberg völlig sichtbar wird und sich bis
heute in einer immer festeren Zementierung der Verdrängung der Deutschen
fortsetzt.
Das Unglück Ostpreußens war
mit Ende des Ersten Weltkriegs in seinen Grundzügen angelegt. Ungeheuer
faktenreich ist die Schilderung in Teil 7 der Geschichte Baltias bei
Schindelmeiser, und in der Rückschau scheint es, als ob auch die
Vertreibung schon 1923 quasi irreversibel gewesen sei. Bis 1934 reicht
dieser Teil, und die Tendenz zur ungeheuer fesselnden Zeitgeschichte
setzt sich fort. Betrachtet man das Werk unter dem Gesichtspunkt
„Corpsgeschichte“, müßte man dies als Manko kenntlich machen, aber wer
wollte das angesichts dieser Qualität und Dichte der Schilderung! Zumal
der Corpsbetrieb durchaus seinen Platz erhält, zumal die größer
werdenden Feste, die gute Nachwuchslage und die scheinbare Saturierung
ja nur illustrieren, daß und wie Ostpreußen in den letzten Jahren vor
dem Untergang noch einmal seinen ganzen Glanz entfaltete. Die Angstblüte
einer großen, ganz eigenen Kultur – und welche Tragik!
Etwas ratlos läßt
Schindelmeiser den Leser zurück, wenn es um das Grauen des Krieges und
des nahenden Unterganges geht, auch wenn er zweifelsohne die
selbstgestellte Aufgabe erfüllt, Baltias Geschichte bis zum Ende, bis
zur Suspension zu erzählen. Denn Baltia sollte in seiner gewesenen Form
nicht mehr erstehen. Das Blühen, Wachsen und Gedeihen der Hamburger
Albertina gibt zwar zur Freude Anlaß, und nicht zuletzt freut sich
gelegentlich der Verfasser dieser Zeilen oft darüber, aber der Verlust
bleibt. Baltia II is nicht mehr. Dies Buch ist das Denkmal, daß dieses
Corps verdient hat.
Eine umfassende Würdigung
dieses Werkes muß anhand der Faktenfülle am Rand der Unübersichtlichkeit
balancieren, hier sei daher eine Zusammenfassung der Aussagen zum
Inhalt versucht.
Eine erste, wichtige
Erkenntnis: Anhand der gründlichen Lektüre dieses Buches läßt sich das
Korporationswesen in Königsberg an sich verstehen. Das ist viel. Es ist
besonders verdienstvoll, weil Königsberg in seiner Gestalt als uralte
deutsche, preußische und in jeder Richtung weltoffene Stadt 1945
untergegangen ist. Es ist aber auch wichtig, daß hier ein
Hochschulstandort und eines seiner Corps mit der Systematik der
Vollständigkeit der wichtigen Nachrichten betrachtet werden. Andere
Städte, andere Corps könnten sich ein Vorbild nehmen.
Bei
Ausführung und Machart der beiden Bände gibt es Stärken und Schwächen.
Sehr kompakt sind die 558 und 562 starken Bände angelegt, das Papier ist
von feiner Qualität, der feste Einband ist des Werkes würdig, dessen
Machart mit Leinenstruktur mutet sehr wertvoll an; die Lesebändchen in
den Farben der Baltia und der Albertina sind prachtvoll, mit diesem
Detail ist das Werk, was die Ausstattung betrifft, absolut auf der Höhe
der Zeit. Allerdings wären eine Fadenheftung und eine etwas festere
Bindung gerade auch angesichts des Preises von 159 Euro schön gewesen.
Nur mehr kleine Abstriche sind bei der Wiedergabe der Bilder zu
konstatieren, nachdem in den letzten Jahren der Digitaldruck deutlich in
puncto Qualität aufgeholt hat. Graphik und Photographien in
schwarz-weiß sind brauchbar, Gemälde und Farbphotographien „ertrinken“
gelegentlich in zu dunkler Färbung, aber immerhin läßt sich ermessen,
wie schön sie realiter sind. Hier könnte nur Offest-Druck helfen. Beim
Text zeigt sich übergreifend die Tendenz, zusammengehörende
Gedankengänge in mehrere Absätze aufzuteilen und so den Lesefluß unnötig
oft zu bremsen. Ein Lob dagegen verdienen die wenigen, aber
informativen und gut platzierten Karten. Exemplarisch sei eine Karte
genannt, die erklärt, warum 1919 der kaschubische Korridor gebildet
wurde; sie findet sich in Band 2 auf Seite 197, im so besonders
bemerkenswerten sechsten Teil der Balten-Geschichte. Summa summarum muß
sich aber angesichts dieses epochalen Werkes jede formale Kritik
kleinlich anhören, sie sei daher nur pro forma erwähnt. Es bleibt dabei:
der engagiert Corpsstudent muß dieses Werk kennen, wenn er bei den
Themen der studentenhistorischen Forschung zukünftig mitreden möchte.
Siegfried Schindelmeiser †, Die Albertina und ihre Studenten 1544 bis WS 1850/51 und Die Geschichte des Corps Baltia II zu Königsberg i. Pr., Neuausgabe von Rüdiger Döhler und Georg v. Klitzing, 2 Bände, München 2010; Hardcover, zwei Lesebändchen in Corpsfarben, Schutzumschlag, 159 Euro, ISBN 978-3-00028704-6.