Die Heidelberger Sachsenpreußen: Zeitgeist, Gewissen, Widerstand

By | 30. Mai 2020

Kein Corps hat mehr Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus in seinen Reihen als Saxo-Borussia Heidelberg. Das haben teils die Forschungen der letzten Jahre ergeben, teils war es längst bekannt – die Namen Albrecht v. Hagen, Rudolf von Scheliha und Nikolaus von Halem stehen dafür. Eine Kurzrezension über den Aspekt des Widerstands in diesem Buch.

Der Schutzumschlag der Sachsenpreußen-Festschrift zeigt auf der Vorderseite eine historische Darstellung des Riesenstein, des heutigen Corpshauses also, und auf der Rückseite die Oberfläche eines Kneiptisches, in dem sich Generationen von Corpsbrüdern verewigten.

Die Heidelberger Saxo-Borussia feiert in diesem Jahr ihr 200. Stiftungsfest. Aus diesem Anlaß erschien jüngst – rechtzeitig für eine geplante, aber aufgrund aktueller Krisenzeiten abgesagte Zweihundertjahrfeier – eine gewichtige Festschrift. Und auch wenn diese Rezension sich nur einem Kapitel widmet, sei doch vorausgeschickt, dass dies Buch von der optischen und haptischen Anmutung her seinem Zweck, die pure Freude über 200 Jahre des Bestehens auszudrücken, ganz hervorragend nachkommt. Auch in der Themensetzung drückt sich diese Freude aus. Eine Schrift, die ein lebendiges Corps sich selbst gibt, die viele Aspekte der Geschichte ohne Eitelkeit beleuchtet und die einen deutlichen Appell für die Zukunft enthält – das repräsentiert dieses Buch auf würdige Weise.

Eines der zentralen Kapitel der Sachsenpreußen-Festschrift behandelt die NS-Zeit. Dieses Thema ist ganz selbstverständlich eingefügt, es wird als Teil der Geschichte angenommen. Auch die Frage nach dem möglichen erzwungenen Ausschluß jüdischer Corpsbrüder, von der Saxo-Borussia aber nur in einem Fall betroffen war, wird nicht ausgespart. Das alles ehrt Autor und Herausgeber. Längst nicht jede Festschrift, die in den letzten Jahrzehnten erschien, enthält dieses Thema – und wenn, sahen sich die jeweiligen Herausgeber manch anderer Schrift nur in der Lage, gefärbte Teilinformationen, einseitige Schilderungen widerständigen Verhaltens oder kriegsbezogene Berichte abzudrucken. Nicht so Saxo-Borussia.

Heilsame Offenheit

Der Aufsatz „Zeitgeist und Gewissen“ von Hans Christoph von Rohr, der auf den Seiten 123 bis 149 der Sachsenpreußen-Festschrift abgedruckt ist, widmet sich zuerst den zehn Corpsbrüdern, die „über die reine Parteimitgliedschaft hinaus als aktive Nationalsozialisten politisch oder auf andere Weise hervorgetreten sind“. Demnach konnte man, auch dies wird nicht verschwiegen, auf dem Riesenstein einzelne Sachsenpreußen „noch in den fünfziger und sechziger Jahren als unverbesserliche Nationalsozialisten erleben“. Autor und Herausgeber adeln sich hier selbst durch klare und schonungslose Worte, ohne falsches Pathos.

Danach erst nennt von Rohr die Widerstandskämpfer und diejenigen, die aus politischen Gründen in Konflikt mit der NS-Diktatur gerieten. Insgesamt handelt es sich um 22 Sachsen-Preußen. Alle Namen – Nationalsozialisten wie Regimegegner – bekommen dabei den gleichen Stellenwert, und der Autor überlässt es ganz dem Leser, herauszufinden, dass durchaus auch mehrere Regimefreunde in Konflikte gerieten. So, wie es auch Männer gab, die widerständiges Handeln zeigten, obwohl ihre sonstige politische Haltung an sich recht regimekonform war. Ein Aufsatz, der derart offen angelegt ist, läßt differenzierte Betrachtungsweisen zu. Das ist so wertvoll, weil es illustriert, dass unter einer Diktatur unendlich viele Lebenswege verbogen, ja, gebrochen werden, weil „gut“ und „schlecht“ nicht mehr gelten, weil die Sitten verdorben und alle Werte umwertet sind. Für viele der angerissenen Biographien gilt, was der hier ansonsten selten zitierte Theodor W. Adorno zu sagen weiß: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

Scheliha, Hagen, Halem

Natürlich soll auf dieser Webseite, wo prinzipiell der Widerstand von Korporierten eine Leitlinie bildet, kurz auf die bedeutenden Widerstandskämpfer eingegangen werden, die das Band von Saxo-Borussia getragen haben. Gleich als erster wird Rudolf von Scheliha genannt, der als Diplomat in Polen zum Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime stieß und unter anderem wegen Kontakten zur „Roten Kapelle“ und angeblicher Spionage für die Sowjetunion 1942 hingerichtet wurde. Offen und nüchtern notiert von Rohr, daß das Auswärtige Amt wie Saxo-Borussia sehr lang – rund fünf Jahrzehnte! – gebraucht haben, um in Scheliha den Widerstandkämpfer zu erkennen, der er war.

Es folgt ein knapper Absatz über Albrecht von Hagen, der mehrmals Sprengstoff beschaffte, mit dem Hitler getötet werden sollte. Das Zitat seiner letzten Worte reicht indes, um diesen Absatz gewichtig zu machen: „(…) Es bleibt mir zu meinem Ende nur übrig, die Haltung zu wahren, die ich mein Leben lang als die Grundvoraussetzung des Adels angesehen habe.“ Der ausführliche Absatz über Nikolaus von Halem, der dritte in der ehrenvollen Liste der Widerstandskämpfer, ist nicht weniger erschütternd. Halem wurde bereits kurz vor dem Stauffenberg-Attentat als „Staatsfeind aus anglophiler Einstellung und Haß gegen den Nationalsozialismus“ gehenkt.

Die Schicksale, die im weiteren Verlauf geschildert werden, sind sehr unterschiedlich, aber immer von der arkanen Tätigkeit gegen die Diktatur und der Tragik ihres gewaltsamen Endes geprägt. Die Lebensbilder des Hansjoachim von Rohr und des Wilhelm von Flügge fallen dabei als besonders lesenswert auf. Sorgfältig werden auch kleinere Konflikte mit den nationalsozialistischen Herrschern dokumentiert, was späteren Forschungen zugutekommen dürfte.

Klare Grundlage für die Zukunft

Eine in ihrer bemerkenswert offenen und objektiven Art nach der vorherigen Lektüre durchaus auch erwartete Schlußbetrachtung rundet den Absatz ab. Der Autor stellt dem Leser anheim, sich über die mögliche Beteiligung von Sachsenpreußen am Holocaust, die noch nicht bekannt ist, selbst nachzudenken. Er formuliert: „Schmerzlich und aus heutiger Sicht schwer verständlich bleibt, warum, auch in der Folgezeit, als die verbrecherische Komponente der NS-Herrschaft unübersehbar geworden war, nicht mehr Saxo-Borussen, nicht mehr Träger der großen preußischen Namen von stiller Distanz zu aktiver NS-Gegnerschaft gefunden haben.“ Bemerkenswert!

Eine Gesamtschau der persönlichen Verstrickungen von Sachsenpreußen in die Ereignisse der Zeit des Nationalsozialismus: nicht weniger ist aus Sicht des heutigen Lesers hier gelungen. Falls später weitere Fakten bekanntwerden sollten, können sie in dieses gültige Raster problemlos eingefügt werden. Saxo-Borussia gereicht allein schon dieses Kapitel der großen Festschrift zur Ehre. Jeder Sachsenpreuße – und jeder Spefuchs, der überlegt, auf dem Riesenstein aktiv zu werden – weiß nun, woran er ist. Den Kritikern des Corpsstudententums tritt Saxo-Borussia zudem mit offenem Visier entgegen, wozu den Herausgebern wie dem Autor nur gratuliert werden kann. Die Lektüre des gesamten Werkes sei jedem interessierten Leser wärmstens ans Herz gelegt.

Lucius, Wulf D. v. / Lützen, Uwe Johannes / Stolleis, Michael (Hrsg.), Saxo-Borussia, Dir gehör’ ich! 200 Jahre Corps Saxo-Borussia zu Heidelberg 1820 – 2020, Heidelberg 2020, Festeinband mit Titel- und Rückenprägung, Fadenheftung, SU, ISBN 978-3-00-065031-4, für 32 Euro bestellbar bei der Firma Beck, Industriestr. 53, 69245 Bammental, Tel. 06223 970153, saxoborussia@beck-gmbh.eu.

.