Jürgen Herrlein legt bahnbrechende Studie vor
Der Umgang mit jüdischen Mitstudenten war für die Korporationen im damaligen Deutschen Reich und in Österreich seit etwa 1880 ein immer stärker drängendes Thema, und dieses Thema ist bis heute bei einigen Verbindungen, meist sind es Burschenschaften, nicht beendet. Einen weiten Bogen vom frühen Antijudaismus zum rassischen und rassistischen Antisemitismus und weiter bis ins 21. Jahrhundert zu spannen und das Geschehene zu erklären – das war die Aufgabenstellung für Jürgen Herrlein. Er hat sie wahrlich summa cum laude erfüllt – soviel sei vorweggenommen.
Die bahnbrechende Promotionsschrift von Jürgen Herrlein ist inzwischen auch als preiswerter Zweitdruck erschienen, in dem die geschichtlichen Fakten zum Antisemitismus ab 1880 in fast allen Studentenverbindungen, speziell zur Arierfrage und ihrer Umsetzung, vollständig enthalten sind. 80 Seiten, broschiert, 10 Euro, bestellbar über diese Webseite, aber fast vergriffen.
Natürlich steht der Zeitraum des Nationalsozialismus im Fokus einer solchen Untersuchung. „Im Frühsommer 1933 warfen die deutschen Studentenverbindungen mit der Übernahme des nationalsozialistischen Führerprinzips in wenigen Wochen [eine] über ein Jahrhundert alte demokratische Traditionen über Bord“, schreibt der Nomos-Verlag. In der direkten Folge vollendeten die Korporationen – über alle Dachverbände hinweg – eine unheilvolle Tendenz, die sich schon im späten 19. Jahrhundert angebahnt hatte. Sie verdrängten nicht nur ihre Mitglieder jüdischen Glaubens, sondern auch die, die jüdische Vorfahren oder eine jüdische Ehefrau hatten. Mit diesem Treuebruch, den Herrlein in seiner Promotionsschrift konsequent herleitet und schonungslos benennt, schädigten sie ihre eigene Struktur irreparabel. Zwar geschah die Vollendung des Unheils unter dem Druck eines sich immer weiter radikalisierenden NS-Regimes, aber das änderte nichts am vorhersehbaren Ende: bereits 1936 lag das gesamte deutsche Korporationswesen darnieder. Nur dank der Befreiung vom Nationalsozialismus konnte überhaupt wiedererstehen.
Akribisch zeichnet Herrlein am Beispiel
des Corps Austria Prag, heute in Frankfurt am Main, den Umgang mit
denjenigen unter den Mitgliedern nach, die unter die NS-Verfolgten
fielen. Dieser Aspekt der Arbeit ist höchst verdienstvoll. Verschiedene
Aspekte treten deutlich hervor – so auch die Tricks, mit denen sich ein
Corps wie Austria sozusagen aus den Verfolgungsbemühungen des NS-Regimes
herauszuwinden versuchte. Von Heldentum ist hier wenig zu spüren, eher
von einem verzagten Bemühen, das Schlimmste zu verhindern. Knapp, aber
signifikant das Kapitel 11, in dem die Reaktionen Betroffener auf die
Ausgrenzung dargestellt werden: ganz unterschiedlich, aber alle
berührend. Zu erwähnen war aber genauso, daß hier alle „nichtarischen“
oder „jüdisch versippten“ Alten Herren des Corps sofort nach dessen
formeller Schließung unter dem Druck des NS-Regimes wieder als
Mitglieder geführt und angesehen wurden und dies auch annahmen. Herrlein
tut dies; sehr hilfreich ist in diesem Zusammenhang sein Verweis auf
die Studentenorden im 18. Jahrhundert, die ebenfalls unter scharfer
Verfolgung litten und mit ihren namentlich verfolgten Mitglieder
verabredeten, dass diese zum Schein dem Orden abschworen, in
Wirklichkeit aber Mitglieder blieben.
Überaus ertragreich ist Kapitel 14. Der
Autor erklärt hier die Hintergründe für den Antisemitismus, der sich ab
etwa 1880 im Deutschen Reich und in ganz Mitteleuropa zunächst
klandestin, dann immer offner breitmachte. Faszinierend ist der hohe
Erkenntnisgewinn, der sich allein aus den ersten 18 Seiten dieses
Abschnitts ziehen lässt. Es zeigt sich, daß die Vorgänge rund um das
Korporationswesen quasi als eine Art Katalysator eingesetzt werden
können, mit dessen Hilfe das gesamtgesellschaftliche Problem erkannt
werden kann. Es zeigt sich hier auch, dass die Korporationen weit
weniger aus dem Bevölkerungsdurchschnitt herausragten, als sie selbst es
in dem ihnen eigenen Elitedenken vielleicht gerne gehabt hätten.
Mit umfangreicher Quellenarbeit zeichnet
Herrlein an anderer Stelle nach, wie sich die völkisch-nationalen
Motive für diese Vorgänge seit Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelten.
Die Mitglieder von Korporationen verschiedener Couleur waren seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in stark zunehmendem Maße mit
leitenden Aufgaben in Gesellschaft und Regierung betraut. Völlig richtig
beobachtet Herrlein daher, dass diese Involvierung sich danach Stück
für Stück fatal auswirkte und schließlich in einem rassischen
Antisemitismus gipfelte, als Regierung und System nationalsozialistisch
wurde: viele Korporationen übten sich nun in umso radikaler in der
Ausgrenzung von Menschen jüdischen Glaubens – in der irrigen Annahme, in
ihrer Eigenheit von der entfesselten Furie verschont zu werden.
Herrleins Analyse ist gerade bei der
Schilderung der größeren Zusammenhänge klarsichtig und brillant. Er
formuliert auf Seite 342, dabei auch auf Harald Lönnecker rekurrierend:
„In ihrer antidemokratischen Sehnsucht nach dem ‚starken Mann’
verkannten die akademischen Korporationen, dass die Nationalsozialisten
niemals ein ernsthaftes Interesse an den studentischen Verbindungen und
ihren Dachverbänden hatten. Den NS-Organisationen ging es nur um den
Zugriff auf die Studenten.“ In dieser Erkenntnis wie in der Schilderung
des Gesamten ist Herrlein, der selbst Corpsstudent ist, absolut d‘accord
mit forschenden Kollegen – auch solchen, die der Idee der
Studentenverbindungen an sich zumindest neutral gegenüberstehen.
Exemplarisch genannt seien hier Anselm Faust, der in einem 2008
erschienenen Aufsatz über den NStSDB im von Joachim Scholtyseck und
Christoph Studt herausgegebenen Band „Universitäten und Studenten im
Dritten Reich“ zu gleichwertigen Ergebnissen kommt. Die früheren
Arbeiten Fausts sowie die Forschungen von Michael Grüttner seien hier
auch genannt.
Einen wichtigen Teil der Untersuchung
nimmt schließlich die Schilderung der weitgehend und fast flächendeckend
gescheiterten Aufarbeitung in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten
Weltkrieg ein. Vielfach wurde mehr Rücksicht auf die Täter genommen als
auf die Opfer. Täter konnten sich sogar in vielen Verbindungen, darunter
auch viele Corps, als NS-Verfolgte darstellen. Die Opfer, die vergessen
wurden, sind quasi ein zweites Mal verraten worden. Erst nach und nach
wird diese untragbare Haltung korrigiert. Vor einigen Jahren geschah
dies bereits bei Hubertia Freiburg, doch Herrlein deckt auch hier Lücken
auf. Eine neue Kultur des Gedenkens pflegt zum Beispiel auch die
Heidelberger Corps Suevia – Herrlein vermeldet es. Hinweise auf Corps
wie Saxo-Borussia Heidelberg und Hasso-Nassovia Marburg, wo dies auf die
eine oder andere Art auch geschieht, wären zwar als Ergänzung
förderlich gewesen, das tut der Untersuchung insgesamt aber keinen
Abbruch.
Die Narben des Traditions- und
Treuebruches von 1933 und in den Folgejahren sind bis heute sichtbar.
Herrleins Schrift macht dies sehr deutlich, ohne dass der Autor in
billige oder abgedroschene Klischees verfallen würde. Mit großer
Objektivität und Genauigkeit werden vielmehr die Grundlagen für das
ungeheuerliche Geschehen aufgespürt und sehr fein die bestehenden
Unterschiede zwischen den einzelnen Dachverbänden benannt. All dies ist
enorm wichtig. Es sichert, das sei hervorgehoben, ein Ergebnis, das
wissenschaftlich standhalten kann. Damit unterscheidet sich diese Arbeit
vom Grundsatz her wohltuend von Schriften über die korporierte
Studentenschaft, wie sie etwa Heither und andere dogmatische Gegner der
Korporationswesens verfaßt haben.
Herrleins Arbeit wurde von der Universität Bremen „summa cum laude“ als rechtshistorische Dissertation angenommen.
Das Buch liegt als Hardcover-Ausgabe vor, in einer Bibliotheksausstattung, es hat 486 Seiten. Das ist angemessen; eine etwas sorgfältigere Behandlung des Textlayouts wäre zu wünschen gewesen. Aber das gerät über die Lektüre des an sich angenehm und flüssig geschriebenen, ja, fesselnd-spannenden Textes zur Nebensache, zumal ein sehr ausführlicher Quellenteil erfreuliche Ergänzung bietet. Nicht jeder potentielle Leser wird jedoch 99 Euro für das Werk ausgeben können. So sei vor allem den Aktiven und Inaktiven geraten, dieses Buch beizeiten in der Unibibiliothek ihres Vertrauens zu bestellen. Es lohnt sich sehr! Sebastian Sigler