Volker G. Heinz: Mit größtem Mut gegen das SED-Unrechtsregime

Von | 19. September 2018

Corpsstudenten engagieren sich im Widerstand gegen Kommunismus und Unfreiheit, gegen die Mauer

Berlin 1966. – Seit fünf Jahren teilt eine Mauer die Stadt, die unzählige Familien und Paare getrennt hat. Der westdeutsche Jurastudent Volker G. Heinz, Inaktiver des Corps Suevia Heidelberg, hat eine Mission. Er gehört zu einer Gruppe von Fluchthelfern, die mit festem Glauben an die Freiheit, mit großer Kaltblütigkeit und unerschütterlichem Mut Menschen über die Schandmauer von Ost nach West bringt.

Volker G. Heinz Sueviae Heidelberg: Der Preis der Freiheit

Der Mauerbau hat es 1961 grell und schlaglichtartig gezeigt: Berlin ist Frontstadt im Kalten Krieg. Dramatische Szenen am Checkpoint Charlie, dem bestbewachten Grenzübergang des Kalten Krieges, tränenüberströmte Gesichter im S-Bahnhof Friedrichstraße, entsetzliche Bilder von erschossenen Menschen im Stacheldraht der Grenzsperren – es gibt sie wieder und wieder. Genau die wollen die Fluchthelfer verhindern. Sie sind Vorkämpfer der Freiheit, aber diejenigen der DDR-Bürger, die mit ihrer Unterstützung dem kommunistischen Regime entfliehen, sollen stattdessen ohne Aufsehen über die Grenze geschleust werden. Zu den Erfindern dieser Methode gehört Volker Heinz, selbst ein angehender Jurist, einer mit großem Gerechtigkeitssinn. In Berlin hat er von Kommilitonen gehört, dass die Tunnelbauten der ersten Jahre nach dem Mauerbau zu aufwendig, zu auffällig und auch zunehmend zu unsicher geworden seien. Eine neue Idee mußte her! In der Kerntruppe der Fluchthelferzelle, für die Volker Heinz tätig ist, sind mehrere Corpsstudenten aktiv. Speziell sie wissen besser als manch Anderer, wie Risiken einzuschätzen, wie unter Gefahr für Leib und Leben sichere Schritte zu gehen sind.

Ein syrischer Diplomat mit seinem weißen Mercedes unterstützt die arkan operierenden Fluchthelfer. Das Auto ist durchaus standesgemäß und im übrigen unauffällig. Doch das Innenleben dieses Diplomatenfahrzeugs ist umgebaut – präpariert für die Schleusung von Menschen. 66 DDR-Bürger schleusen Heinz und seine Mitverschwörer im Jahre1966 nach und nach durch die Grenzkontrollen an der Berliner Mauer, eine im Bildteil wiedergegebene Auflistung von der Hand eines Stasi-Offiziers belegt das. Immer wieder gelingt so die Flucht vor dem kommunistischen und menschenverachtenden SED-Regime, versteckt im Kofferraum dieses syrischen Diplomatenautos. Erstaunen, dass das so lange gut gehen konnte: das empfindet der Leser.

Die Erinnerungen lassen den mutigen und couragierten Fluchthelfer auch 50 Jahre nach seiner Inhaftierung und Verschleppung durch die DDR-Staatssicherheit nicht los. Entstanden ist ein detailreich und flüssig geschriebenes Buch – packend wie ein Krimi von John le Carré. Das Deutschlandradio Kultur, dem er ein langes Interview gab, über Volker Heinz: „Er selbst beschreibt sich, den westdeutschen Jurastudenten, als Idealisten und Abenteurer. In Wuppertal aufgewachsen, hatte der 22-Jährige gerade zwischen Studienaufenthalten in Heidelberg und Bonn zwei Semester in Berlin an der Freien Universität belegt, als er zufällig in die Fluchthelferszene geriet.“

Heinz ist kreativ, er hat Erfolg mit der Umsetzung seiner neuen Idee. In seinem Buch beschreibt er genau, glorifiziert nicht, lässt aber auch nichts weg. Doch er lebt gefährlich; daß er als westdeutscher Tagesbesucher immer wieder einreist, fällt offenbar auf. Daß er Fluchtaktionen an Ostberliner Treffpunkten betreut, bleibt dagegen zunächst unentdeckt. Doch die misstrauische Staatssicherheit läßt insgeheim ein- und ausreisende Diplomatenautos in Serie optisch vermessen, darunter auch das syrische. So schöpfen die Stasi-Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) an der Grenze Verdacht, observieren – und stellen Volker Heinz eine Falle.

Der Student wurde verhaftet und monatelang im Untersuchungsgefängnis in Hohenschönhausen immer wieder von Stasi-Offizieren verhört. Isolation und Langeweile setzten ihm zu. Mit sportlicher Fitness und mentalem Zeitvertreib versuchte er, depressive Stimmungen auszugleichen, um ja nicht durch Verhöre und Gefängnisalltag gebrochen zu werden. In einem Scheinprozeß wurde er schließlich zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, weil er „fortgesetzt Personen zum illegalen Verlassen der DDR verleitet“ habe. Das Urteil war ein Schock. Nur die Tatsache, dass zuvor schon der Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel signalisiert hatte, er solle guten Mutes sein, ließ den Häftling sein Schicksal ertragen. Die Andeutungen des Anwalts konnten nur eines heißen: daß sein Fall dort bekannt war, wo geholfen werden konnte, bei seinem Corpsbruder Hanns Martin Schleyer und bei einem anderen Corpsbruder, dem Staatsminister im Bundeskanzleramt, Werner Knieper.

50 Jahre danach beschreibt der Autor das gesamte Geschehen. Es hat ihn nicht losgelassen, das ist erkennbar. Das ist an der Schilderung seiner Fluchthelfer-Tätigkeit ebenso wie an der fast quälend ausführlichen, aber ganz nüchtern und sachlich formulierten Wiedergabe seiner Haftbedingungen und des Prozesses, der ihn erwartete, deutlich zu erkennen. Erstmals konnten übrigens die juristischen Hintergründe in einem Buch an einem realen Fall beleuchtet werden – konkret: die Dialoge und Schriftsätze des DDR-Anwalts Wolfgang Vogel und seines Kollegen auf der Westseite, Jürgen Stange.

Erst seit 2014 sind diese Akten überhaupt zugänglich, und es ist höchst interessant, das juristische Tauziehen zu beobachten. Heinz bietet, aus diesem Blickwinkel betrachtet, also echte Novitäten. Und das Gebiet, das durch ihn hier erstmals von der narrativ-anschaulichen Seite her betreten und geschildert wird, ist wahrlich groß: es geht um nicht weniger als drei Milliarden D-Mark für rund 30.000 politische Gefangene, die die Bundesrepublik aus den Gefängnissen der DDR hinauskaufte. Volker Heinz war hier einer der ersten, und er wurde gegen eine hohe Summe Bargelds und zwei russische Spione getauscht, deren Freilassung eigentlich der DDR gar nichts brachte. Was als Nebenaspekt auch einmal mehr belegt, wie abhängig der DDR von der übermächtigen Sowjetunion war. Daß Heinz so hoch bestraft und bald danach gegen zwei Spione ausgetauscht wurde, war in den 1960er Jahren noch ungewöhnlich.

Zwölf Jahre seines Lebens im Stasi-Knast und in Zwangsarbeit nach Art eines kommunistischen Gulag – das blieb Volker Heinz erspart. Obschon er letztendlich in relativ kurzer Zeit aus der Sache herausgekommen ist, haben Fluchthilfe, Verhaftung und kommunistische Gewalt bei ihm Spuren hinterlassen. Selbst als erfahrener Rechtsanwalt in Berlin und London kehrte er später nur mit unguten Gefühlen als Besucher ins Berliner Gerichtsgebäude oder in die Haftanstalt Hohenschönhausen zurück. Und doch hat er seine Entscheidung für das Engagement gegen den Kommunismus nie bereut.

Der Preis war hoch. Heinz hat ihn bezahlt. Das bei Rowohlt erschienene Taschenbuch enthält ein packendes Stück erlebte Zeitgeschichte über Fluchthilfe und Gefangenenaustauch im Kalten Krieg, über Freiheitswillen und Zivilcourage; es ist so spannend zu lesen wie ein Krimi. Es ist dabei auch ein Stück Studentengeschichte, denn überall dort, wo es um die Freiheit ging, waren in diesem Lehrstück der Zeitgeschichte Corpsstudenten beteiligt. Der Autor selbst wurde von einer Gruppe bereits in der Fluchthilfe engagierter Corpsstudenten dazu angeregt, Fluchthelfer zu werden; er sorgte unter anderem dafür, dass mehrere Corpsbrüder aus der Unterdrückung fliehen konnte, und zwei andere Corpsbrüder – der eine mit einem großen Geldbetrag, der andere als Staatsminister der Bundesregierung – sorgten nach seiner Inhaftierung und Verurteilung dafür, daß seine Freilassung überhaupt Realität werden konnte.

Es gibt viele Geschichten über den Widerstand von Korporierten gegen den Kommunismus. Sie beginnen im zuweilen wenig rühmlichen Umfeld der 1920er Jahre und sie ziehen sich durch bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Volker Heinz und seine Mitstreiter stehen dabei für einen Glanzpunkt an Mut und Menschlichkeit in einer langen Auseinandersetzung, die den Großteil des 20. Jahrhunderts durchzieht. Dieses Buch stellt einen großen Gewinn dar, denn es hebt ein Kapitel aus dieser langen Widerstandsgeschichte exemplarisch ans Licht – und das im Stil der hervorragenden, narrativen Geschichtsschreibung, wie sie vor allem im anglo-amerikanischen Raum gepflegt wird. Ein unbedingt lesenswertes Werk aus dem namhaften Rowohlt-Verlag, das zudem dankenswerterweise sehr erschwinglich ist.

Volker G. Heinz, Der Preis der Freiheit – Eine Geschichte über Fluchthilfe, Gefangenschaft und die geheimen Geschäfte zwischen Ost und West, Reinbek bei Hamburg 2016, TB 238 Seiten, achtseitiger s/w-Bildteil, ISBN 978-3-499-63176-4, Euro 9,99.

Leseprobe: Volker G. Heinz, Der Preis der Freiheit:

Hinter mir lagen drei ereignisreiche Semester Jura in Heidelberg – ich hatte im Kneipsaal unseres Anfang des vergangenen Jahrhunderts erbauten Corpshauses viel gesungen und viel getrunken, mit der blanken Waffe gefochten, schöne Reisen unternommen und kaum studiert – , aber nun, im Frühjahr 1965, wollte ich raus aus dem feuchtfröhlichen Umfeld, etwas anderes erleben, vor allem aber ernsthaft studieren. Wie so viele in dieser Zeit zog es mich nach Berlin, und die Regierung in Bonn subventionierte in der geteilten Stadt zwei Besuchssemester. Diese Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen. Berlin, das klang in meinen Ohren nach Abenteuer und Freiheit. (…)

In der Argentinischen Allee 1 in Zehlendorf, nur eine kurze Autofahrt von der Freien Universität entfernt, bezog ich ein kleines Pensionszimmer und sah mich in den kommenden Tagen und Wochen in der „Frontstadt“ Berlin um. Die Lage war nicht ohne politische Brisanz, sowohl die Sowjetunion als auch die USA sahen ihren Teil Berlins als Speerspitze im Kampf gegen das System des jeweils anderen. Von beiden Seiten wurde geschnüffelt, erpresst, intrigiert, eingeschüchtert und hintergangen. Laute Propaganda auf beiden Seiten war ein Teil des Berliner Lebens, und die politisch angespannte Situation war überall zu spüren. Immer wieder ging ich bei meinen Spaziergängen durch die Stadt an der hässlichen Mauer entlang, die fast 200 Straßen getrennt oder verstümmelt hatte – was für ein Kontrast zum beschaulichen Heidelberg, dem Juwel badischen Frohsinns.

Ich hatte mich an der Freien Universität für Volkswirtschaft und Jura eingeschrieben. Die noch junge Universität wurde im engen Zusammenhang mit dem beginnenden Ost-West-Konflikt als Gegenstück zur Berliner Humboldt-Universität gegründet und war von einer sehr politischen Studentenschaft geprägt. Neben meinen ausgiebigen Stadterkundungen suchte ich nach geselligem Anschluss. In Heidelberg, wo ich zuvor studiert hatte, gehörte ich der ältesten studentischen Verbindung an, dem Corps Suevia. Es wurde 1810 gegründet und war, wie viele andere Verbindungen, letztlich ein Kind der Französischen Revolution und der deutschen Freiheitsbewegung.

Mich reizte als junger Mann die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die Wert auf Solidarität und Geselligkeit legte. Im Berliner Stadtteil Dahlem, in der Hammersteinstraße, befand sich das Haus einer Schwesterverbindung, der Lusatia Leipzig zu Berlin. Als Mitglied eines Corps konnte man das Netzwerk der deutschlandweit verbreiteten Schwestercorps in Anspruch nehmen. In der Lusatia schloss ich auch schnell Freundschaften, unter anderem mit Manfred Baum. Ich hatte allerdings keine Ahnung, welche außergewöhnlichen Folgen diese Begegnung für mein Leben noch haben sollte.

Eines Tages, ich war gerade drei oder vier Monate in Berlin, saß ich bei Manfred, einem hochgewachsenen Mann mit dunkelblonden Haaren und blaugrauen wachen Augen, in seiner Studentenwohnung in der Köhlerstraße in Lichterfelde-West. Das Gebäude war kein typisches Berliner Mietshaus, eher ein Vorstadthaus in einer Gegend, in der viele Arbeiter und Eisenbahner lebten. Das Ehepaar Ahrens wohnte im ersten Stock, die Souterrainräume vermieteten sie an Studenten. Manfred studierte Medizin. Ihn schien seit einiger Zeit etwas zu bedrücken, aber ich hatte noch nicht herausgefunden, was es war, und ich wollte ihn auch nicht bedrängen.

Während Manfred das Wasser für einen Kaffee zum Kochen brachte, griff ich wahllos zu einer Illustrierten, die auf dem Tisch lag. Es war der Stern. Irgendwo in der Mitte schlug ich das Magazin auf. Vor mir sah ich eine bunte Fotostrecke, die mich sofort fesselte. Die Bilder gehörten zu einem Artikel über eine spektakuläre Fluchtaktion. Ich konnte einen Lastwagen erkennen sowie eine riesige klappbare Leiter, die über eine Mauer geworfen war. Unverkennbar handelte es sich um den „antifaschistischen Schutzwall“, der seit August 1961 zum Grenzbefestigungssystem der DDR gehörte, die von vielen Bürgern im Westen einfach nur „Zone“ genannt wurde. Die innerdeutsche Grenze war 1.378 Kilometer lang. 1965 waren Grenze und Mauer aber noch nicht durch Minenfelder und Stacheldrahtrollen fast unüberwindbar geworden, und auch der Schießbefehl lag noch in weiter Ferne (er wurde erst 1982 formell in ein Gesetz gefasst). Aus diesem Grund war an ausgesuchten Stellen eine Flucht über Lkw und Klappleiter, wenn auch mit hohem Risiko verbunden, noch möglich. (…)

Plötzlich hielt ich inne. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich hielt mir das Magazin direkt unter die Nase. Doch, kein Zweifel. Einer der Fluchthelfer war unverkennbar Manfred, auch wenn er in der Bildunterschrift nicht namentlich genannt wurde. Der Manfred, der mir jetzt gegenübersaß und uns beiden in abgestoßenen Tassen den frischgebrühten Kaffee einschenkte. Manfreds Gesicht, gestochen scharf. Das Foto war aufgenommen worden, als er einer Person beim Herunterklettern von der Leiter auf westlicher Seite half. Das ergab Sinn, denn in einer solch angespannten Situation konnte ein Flüchtling aus Angst leicht danebentreten und sich schwer verletzen. „Manfred, das bist ja du auf dem Foto!“, rief ich erstaunt aus. (…)

„Ich bin Fluchthelfer“, erklärte mein Freund schlicht. „Wie? Fluchthelfer? Das musst du mir genauer erklären.“ Manfred erzählte, dass er es als wichtige Aufgabe empfand, Menschen aus der DDR, die dort nicht mehr leben wollten, zur Freiheit zu verhelfen. Und nach einigem Zögern fügte er hinzu: „Ich hatte als Tunnelbauer angefangen, aber unser letzter Tunnel ist leider aufgeflogen.“ Ich war Feuer und Flamme. Und tief beeindruckt. Das klang alles nach einem einzigen großen Abenteuer, nach einem, bei dem Menschen geholfen wurde! (…)

Erst viel später fand ich in Gesprächen heraus, dass diese Einzelpersonen der CDU nahestanden oder gar Parteimitglieder waren, darunter vermutlich Ernst Lemmer, von 1964 bis 1965 Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte, und Fritz Amrehn, ein Berliner Abgeordneter, die beide die Fluchthilfe politisch unterstützen wollten. Der größte gespendete Betrag betrug 30 000 DM, das war damals eine Menge Geld. Dahinter verbarg sich der sogenannte Geheimfonds des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen – bei ihm mussten bewilligte Gelder nicht gegenüber der Öffentlichkeit gerechtfertigt werden. Er wurde von der Regierung benutzt, um letztlich Fluchthilfeaktionen zu unterstützen. (…)

Als Corpsstudent hatte ich ja auch den „Comment“ akzeptiert, unsere Regeln, die einzuhalten waren, und wenn man gegen sie verstieß, hatte das Konsequenzen. Verbindlichkeit auf freiwilliger Grundlage bedeutete mir schon damals viel – und tut es heute noch. So hatten ältere Studenten sich um die jungen, die „Füchse“, zu kümmern, sie wenn nötig zu beschützen. Das war ein Aspekt, der mir gut gefiel. Es gab aber noch etwas, was mir durch den Kopf ging, und das sprach ich ebenfalls an. Der arme Manfred, ich hatte ihn ganz schön in der Zange. „Wenn die Tunnelunternehmungen nur bedingt zum Erfolg geführt haben, ist deren Zeit dann nun vorbei?“ Immerhin dauerten die Grabungen Monate, so viele Personen, die im Dreck lagen und buddelten, waren in sie involviert, und überhaupt: Wie und wo lagerte man die immensen Erdmassen zwischen? Dazu brauchte man doch Raum. Und es war zudem zu befürchten, dass nach jeder aufgeflogenen Aktion die DDR-Grenzer bestimmte Aktivitäten genauestens beobachteten. Wie oft hatte ich Fotos in Zeitungen gesehen, in denen die Grenzer mit riesigen Ferngläsern alles unter die Lupe nahmen. Aber sie waren bestimmt nicht nur optisch auf dem neuesten Stand, ich konnte mir gut vorstellen, dass auch ihre Ohren geschult waren und sie jedes fremde akustische Signal orten konnten. (…)

Ich war bereit, bei der Flucht zu helfen. Aber würde ich im Fall des Falles eine Waffe gutheißen? Ich dachte an die Duelle in der Verbindung. Für mich war das studentische Mensurfechten in erster Linie eine Tapferkeitsprobe. Mehr Sport als Kampf. Wobei ich zugeben muss, dass das Fechten in der studentischen Variante für den Außenstehenden schon etwas sonderbare Aspekte aufweist, etwa, dass man nie ausweichen oder wegzucken darf. Letztlich geht es um eine Mutprobe und um einen Solidaritätsbeweis. Ich genoss das Fechten an sich, viele andere taten es, weil es der nicht verhandelbare Preis für die Vollmitgliedschaft in der Verbindung war. Umso besser, wenn man Spaß daran hatte. Und das hatte ich. Aber eine Waffe tragen, eine Schusswaffe, das war etwas ganz anderes. Wie weit man sich da unter Kontrolle hatte, wenn es gefährlich wurde, das konnte ich nicht mit Gewissheit beantworten. Ich wusste nur, dass ich mit Waffen nichts zu tun haben wollte. Die politische Situation Westberlins beschäftigte mich sehr und ich hatte das Gefühl, am Puls der Geschichte zu leben. Und jetzt bot sich mir die Möglichkeit zu handeln. Gab es eine finanzielle Motivation? Nein. Von meinen Eltern bekam ich monatlich einen Scheck, und der reichte aus, um mein Studentenleben zu bestreiten. Eine humanitäre Motivation? Ja, die war unzweifelhaft gegeben, gemischt mit einer gehörigen Portion Abenteuerlust. Ich war jung, die Welt stand mir offen – und ich wollte etwas verändern.

Und dann hörte ich mich zu Manfred zwei Sätze sagen, die mein Leben verändern sollten: „Ich möchte bei euch mitmachen. Auf mich könnt ihr zählen.“ Als die Worte über meine Lippen gekommen waren, war ich selbst etwas überrascht. Manfred schwieg erst und sah mich dann eindringlich an. „Bist du dir über die möglichen Konsequenzen im Klaren?“ „Klar doch“, erwiderte ich mit fester Stimme. „Ist dir auch bewusst, dass man dich nicht einfach aufnimmt? Man wird dich auf Herz und Nieren prüfen.“ „Alles andere wäre auch unverantwortlich“, gab ich zurück. „Manche denken aber, dass sie gleich an so etwas Spektakuläres wie einen Tunnelbau rangelassen werden.“ Ich hob die Schultern. „Ich lasse mich überraschen.“ „Gut, ich wollte es dir nur gesagt haben.“ „Und wie werde ich getestet?“ Das fand ich nun spannender. „Du wirst jemanden in Ostberlin aufsuchen, dem du dann eine chiffrierte Nachricht übermittelst. Das sind einfache Botengänge, auch Kurierdienste genannt.“ „Weiß ich, was das für Nachrichten sind?“ „Meist nicht. Aber manchmal geht es auch nur darum nachzufragen, ob derjenige noch Interesse hat.“ „Wieso Interesse?“ „Na ja, ob er noch rüber will. Diese Aktionen haben ja einen langen Vorlauf, in der Zwischenzeit kann der eine oder andere seine Meinung geändert haben.“

Viele der unerfahrenen Kuriere, erfuhr ich weiter, wurden bei ihrem ersten Einsatz gefasst. Professionelle Fluchthelfer, die dieses Geschäft aus rein kommerziellen Gründen betrieben, missbrauchten Studenten, die eine gewisse Begeisterung und Bereitschaft an den Tag gelegt hatten, dann aber nicht oder nur unzureichend instruiert wurden. Und gerieten sie in eine schwierige Situation, mussten sie sie ohne Hilfe lösen. In Berlin und generell in der DDR gab es kaum öffentliche Telefone, von denen aus man in den Westen hätte anrufen können. Und die wenigen, bei denen es möglich war, wurden mit Sicherheit überwacht. Wer als Fluchthelfer in der DDR operierte, musste sich darüber im Klaren sein, dass er vollkommen allein auf sich gestellt war.

„Willst du mich abschrecken?“, fragte ich. „Nein“, erwiderte Manfred. „Aber du sollst wissen, worauf du dich einlässt.“