Rote Fahnen, bunte Bänder: ein Anfang, der zur Fortsetzung einlädt

Von | 2. Oktober 2016

Ein wenig beachtetes Kapitel der Studentengeschichte

Es war wirklich an der Zeit, auf eine vielfache Verflechtung hinzuweisen. Bedeutende Sozialdemokraten, die Vordenker der sozial motivierten Gerechtigkeit in den Zeiten des frühen ungezähmten Kapitalismus waren Mitglieder studentischer Korporationen. Zu ihnen gehörten Ferdinand Lassalle, Wilhelm Liebknecht, Eduard David, Karl Barth, Paul Tillich, Fritz Bauer, Ludwig Bergsträsser, Detlef Carsten Rohwedder. „Für sie vertraten SPD und Korporationen ähnliche Überzeugungen: gelebte Solidarität, eine demokratische Diskussionskultur, lebenslange Weggenossenschaft“, schreibt der Dietz-Verlag, bei dem das von Manfred Blänkner und Axel Bernd Kunze herausgegebene Werk erschienen ist. Völlig zurecht.

Der vorliegende Band dokumentiert anhand von 20 Kurzbiographien dieses enge Verhältnis von Sozialdemokraten und Korporationen. Den Anfang macht ein Aufsatz über Ferdinand Lassalle, der mit Liebe zum Detail gestaltet wurde. Das wird diesem wilden Gründervater der Sozialdemokratie auch gerecht, weniger wäre zu wenig gewesen.

Die Herausgeber haben nur Biographien von denjenigen in der Sozialdemokratie berücksichtigt, die ihren Verbindungen lebenslang treugeblieben sind. Dieses Prinzip sollte, wenn eine erweiterte Auflage angedacht wird, gründlich hinterfragt werden. Ist es nicht entscheidend, daß sich ein Student dazu entschlossen hat, einer Verbindung beizutreten? Sind nicht die Prägungen, die er dadurch erfahren hat, in aller Regel bleibend? Nicht selten entwickeln sich jedoch Verbindungen von ihren alten Prinzipien weg in eine neue Richtung, nicht jeder möchte dann vielleicht mitgehen. Der unzweifelhaft verdienstvolle Sozialdemokrat Gunter Huonker, der seine Freiburger Franconia 1981 verlassen hat, während er – immerhin! – Staatsminister bei Bundeskanzler Helmut Schmidt war, er hätte Erwähnung finden sollen.

Etwas zu kurz kommt die Zeit des Nationalsozialismus. Rudolf Breitscheid zum Beispiel fehlt. Dies umso mehr, als der Widerstandsmann Abegg erfreulicherweise einen Platz im Band erhalten hat, „obwohl“ er zum linksliberalen Spektrum gehörte. Wichtig dagegen die Personalie Fritz Bauer. Und ausgezeichnet die Aufklärungsarbeit im Falle Aron – ein NS-Mord an einem korporierten Sozialdemokraten, der bisher unverständlicherweise viel zu wenig beachtet und bearbeitet wurde.

Aber es fallen weitere Lücken auf: Für die Nachkriegszeit fehlt der für seine Stadt und das neue Bundesland Baden-Württemberg enorm prägende Freiburger SPD-Oberbürgermeister Eugen Keidel, ein Freiburger Rhenane. Das ist umso bedauerlicher, als sein wesentlich älterer Corpsbruder Wilhelm Blos gewürdigt wird – hier wird also auch versäumt, eine Kontinuität aufzuzeigen. Auch auf Friedhelm Farthmann, der der Königsberger Burschenschaft Gothia zu Göttingen angehört, hätte keinesfalls verzichtet werden dürfen. Schließlich blieben sie ihren Verbindungen  immer treu. So bleibt wohl festzuhalten: eines der größten Kunststücke bei solch Sammelbänden ist es, zu erkennen, wann der Band „rund“ ist, also eine für seinen Zweck passende und für den Leser zufriedenstellende Faktenfülle vereint, also einen Personenkreis mit Vollständigkeit erschließt. Und wo die meisten Herausgeber diese Linie zu spät ziehen, wurde hier der Sack zu früh zugemacht. Diese Unvollständigkeit könnte indes durch eine zweite Auflage, für die noch genügend Biographien warten – Keidel ist nur ein Beispiel! –, leicht geheilt werden.

Trotzdem: Der gemachte Anfang bietet schon jetzt sehr viel Lesefreude. Der Band wird abgerundet mit einem Aufsatz von Peter Brandt zum Erbe der Urburschenschaft sowie Berichten und Essays zum heutigen Verhältnis zwischen der SPD und studentischen Verbindungen. Das ist Letztere ist offenkundig dringend nötig, und es zeigt die vielleicht wichtigste Richtung, in die dieser Band weist: Er ist erkennbar insbesondere von Genossen für Genossen geschrieben. Der teils apologetische Unterton der Beiträge in diesem Band legt das zumindest nahe.

Ein Vorwort für den insgesamt von der optischen Anmutung und der Textqualität her ansprechenden Band steuerte Erhard Eppler bei. Das ist bemerkenswert. Der Grandseigneur der Südwest-SPD ordnet die Korporationszugehörigkeit und die Sozialdemokratie in ihrem Verhältnis zueinander wohltuend unaufgeregt – und im übrigen faktisch völlig richtig – ein. An Eppler könnten sich die Jusos ein Beispiel nehmen. Kecker könnte man formulieren: Jusos und andere von gewissen Gewerkschaften beeinflusste Sozialdemokraten könnten sich auch an der Mehrzahl der rund 1.100 bestehenden Verbindungen ein Beispiel nehmen. Speziell an den Verbindungen, die sich – allerdings anders als die JUSOS bei völliger politischer Neutralität – die Toleranz gegenüber Andersdenkenden als oberstes Prinzips auf die bunten Fahnen geschrieben haben.

So bleibt es dem Rezensenten nicht erspart, trotz des Lobes auch Mahnungen auszusprechen. Ein formeller und bindender Unvereinbarkeitsbeschluss gegen Studentenverbindungen, die ihrerseits tolerant sind, ist so ungefähr das Schlechteste, was sich die SPD antun könnte, falls sie als Volkspartei ernstgenommen werden möchte. Das erfahren Juso-Vertreter in diesem Band, und sie erfahren, so wie jeder Leser, noch viel mehr. Denn die Herausgeber Blänkner und Kunze haben ein bemerkenswertes Buch vorgelegt, aber dies sollte nur ein erster Schritt sein. Einen zweiten Band oder eine deutlich erweiterte zweite Auflage sollten sie unbedingt ins Auge fassen.

Manfred Blänkner / Axel Bernd Kunze (Hg.), Rote Fahnen, bunte Bänder: Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute, Dietz-Verlag Bonn 2016, 320 Seiten broschiert, 22,90 Euro, ISBN: 978-3-8012-0481-5