„Nur eine ganz kleine Clique?“ Die NS-Ermittlungen nach dem 20. Juli 1944

By | 23. Juni 2019

Linda v. Keyserlingk-Rehbein hebt die Forschung zum Netzwerk des Widerstands gegen Hitler auf ein neues Niveau. Mit ihrem Werk zu den NS-Ermittlungen nach dem 20. Juli ist ihr ein großer Wurf gelungen. Ein für die zukünftige Forschung unverzichtbares Buch.

Kann eine Forscherin, die den eigentlichen Aufstieg in den wissenschaftlichen Olymp noch vor sich hat, ein so wichtiges Forschungsgebiet wie dasjenige zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus mit einem Buch verändern? – Ja, durchaus. Sie kann.

Ausgerechnet in der dezidiert feindlich gegenüber allen Korporationen eingestellten Süddeutschen Zeitung spricht Knud v. Harbou am 24. Dezember 2018 eine größere Wahrheit aus, als er vielleicht ahnt, als er seine Rezension des Buches von Linda v. Keyserlingk-Rehbein mit „Verbindung der Verschwörer“ übertitelte. Und in der Tat, das Beziehungsgeflecht adliger Familien war bislang schon bekannt, wurde aber gern von interessierter Seite marginalisiert. Kirchlicher Widerstand hingegen konnte nicht so einfach hinweggewischt werden, als Stichworte mögen hier „Bekennende Kirche“, „Bonhoeffer“ einerseits und „Graf Galen“ sowie ein Blick ins „Deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts“ andererseits genügen. Auch der militärische Widerstand ist nicht zu überhören – die Bombe des Grafen Stauffenberg vom 20. Juli 1944 hat bis heute enormen Widerhall. Aber die Korporationen wurden bis vor kurzem durch die Geschichtswissenschaft kaum zur Kenntnis genommen.

Und wenn man die Rolle der Korporationen erforschte, musste der Blick zuerst auf die vielen Täter und Mitläufer fallen, die es zweifelsohne gab. Doch da war eine Lücke. Die Namen von Korporierten im Widerstand waren allenfalls bekannt, aber es wurde nicht in Betracht gezogen, dass es ihre Mitgliedschaft in einer Verbindung sein konnte, durch die sie dazu bewogen wurden, im Widerstand gegen Hitler aktiv mitzutun oder sogar gezielt auf einen Tyrannenmord hinzuarbeiten. Doch diese Lücke ist jetzt geschlossen. Das Wort von der „Verbindung der Verschwörer“ für das Netzwerk gegen Hitler, es stimmt. Linda v. Keyserlingk-Rehbein ist es gleungen, die gesamte Forschung zum Widerstand im Dritten Reich mit ihrem Buch „Nur eine ganz kleine Clique? Die NS-Ermittlungen über das Netzwerk des 20. Juli 1944“ zu verändern und auf eine neue Grundlage zu stellen.

Ja, wer den Widerstand in den Kategorien dessen fasst, was landläufig als „Verbindung“ bezeichnet wird, der kommt ein gutes Stück weiter als viele derjenigen, die sich bisher an dem Phänomen abarbeiteten, dass Menschen aus gesellschaftlich scheinbar völlig unzusammenhängenden sozialen Gruppen und Schichten gemeinsam gegen die NS-Diktatur arbeiteten, ihre unterschiedlichen Ansichten hintanstellten und allesamt ihr Leben aufs Spiel setzten.

Betrachten wir dieselbe Sache von einer anderen Seite. So testiert zum Beispiel der „Perlentaucher“ gerade überschwenglich: „Der schiere Detailreichtum der Studie, der Umfang des Anhangs, die souverän angewandte Methode der kommentierten Netzwerkanalyse, die die Beziehungen der Akteure untereinander und deren Funktionen differenziert in den Blick nimmt und so die Struktur des Widerstands aufzeigt, sowie die Kernthese und ihr auch mit Grafiken geführter Beleg, wonach es sich bei den Attentätern keineswegs nur um eine kleine Gruppe handelte, machen das Buch (…) zum großen Wurf.“ Warum aber gelingt dieser Beleg? Weil die Autorin in ihrer Arbeitshypothese von der Existenz arkaner Netzwerke ausging, gezielt danach forschte – und fündig wurde. So gelang ihr der erste Überblick über das Netzwerk des Widerstands gegen Hitler, das dem Anspruch der Vollständigkeit genügen kann.  

Eine bisher so nicht gekannte Rolle kann v. Keyserlingk-Rehbein bei den Vermittlern zwischen den Widerstandsgruppen nachweisen. Sie gleicht das aus den heute zugänglichen Quellen ersichtliche Bild mit den NS-Quellen ab. Daraus ergibt sich, dass die NS-Ermittler über die wirklichen Zentren des Widerstands nicht informiert waren und bis zum Schluss keine Klarheit gewinnen konnten. Diese Zentren lokalisiert die Autorin in der Abwehr bei Oster, Canaris, Dohnanyi, in der Heeresgruppe Mitte bei Tresckow, Schlabrendorff sowie in Paris, wo Stülpnagel und Hofacker die Fäden zogen. Neu ist, dass Kontaktleute an mit militärischen wie zivilen Kontakten – Brücklmeier, Wirmer, v. Hassell, Kaiser, Popitz – in ihrer großen Bedeutung nun deutlicher als vorher erkennbar sind.

Ein weiterer Vorzug dieser Arbeit: v. Keyserlingk-Rehbein hat die Nachlässe der Widerstandskämpfer hinsichtlich des Kontaktnetzes untereinander ausgewertet. Dies war den Ermittlern im NS-Staat trotz größtem Aufwand längst nicht immer möglich. So offenbart sich, dass unser Bild vom Widerstand gegen Hitler bislang in Teilen von den „Kaltenbrunner-Berichten“ geprägt war, die von den NS-Ermittlern selbst im RSHA zusammengetragen wurden. Die Autorin dieser wegweisenden Monographie kann hier viele Details zur den Kontakten, die die Männer und Frauen des Widerstands untereinander pflegten, beitragen. Auf diese Weise lässt sich die These von einem höchst dezentralen, aber gleichwohl funktionierenden Netzwerk bestärken, das bislang in dieser Größe niemandem bekannt war – nicht der Nachkriegsforschung und schon gar nicht den NS-Ermittlern. War schon 1944 die laut posaunte These von einer „ganz kleinen Clique“ so offenkundig falsch, dass ihr halbwegs orientierte Zeitgenossen keinen Glauben schenkten, so wird nun, mit diesem Buch, die Sachlage nochmals um ein erstaunlich großes Stück klarer. Knud v. Harbou findet in seiner Rezension des Buches, die in einer großen süddeutschen Tageszeitung erschien, die wohl passendsten Worte: „Zukünftig wird man in der Einschätzung des Attentats vom 20. Juli 1944 ohne Bezug auf diese Monografie nicht auskommen.“

Dem Berliner Lukas-Verlag ist zu gratulieren, dass er dieses opus magnum für sein Programm gewinnen konnte. Der fadengeheftete Band bei dem weder ein schlicht-elegan gestalteter Schutzumschlag noch ein Lesefaden fehlen, liegt trotz seiner Größe gut in der Hand. Das mattgestrichene Papier eignet sich bestens für die Darstellung der 20 Graphiken, die die Essenz des Werkes darstellen. Die Bildauswahl erfolgte klug und bedacht – sie gibt den Hauptakteuren ein Gesicht und unterstützt dezent den Duktus. Der äußerst umfangreiche Anhang bietet eine Fülle von Anregungen. Der bereits genannte süddeutsche Rezensent gerät darob gar ins Schwärmen: „Schon im Kapitel über die Quellenlage wird man mit einer neuen Dimension von Anmerkungen konfrontiert, Fußnoten und 180seitiger Anhang lesen sich gewissermaßen wie ein Buch im Buch über den Widerstand und geben als Fundgrube unendliche Anstöße für weitere Forschung.“

So ist nicht nur dem Verlag, sondern auch der Autorin zu gratulieren. Ihr ist ein Meilenstein gelungen. Mit unendlicher Sorgfalt hat sie den biographischen Verästelungen der Biographien des Widerstands gegen Hitler nachgespürt. Das ist nicht nur ein enorme wissenschaftliche Leistung, sondern damit wird – und das ist die vielleicht größte Leistung – den Widerstandskämpfern gegen Hitler auf neue und noch würdigere Weise die Ehre wiedergegeben, die ihnen Freisler und seine Schergen abzusprechen versuchten. Damit hat dieses Werkes über die historische Netzwerkanalyse hinaus auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung.

Gratulieren können sich selbst schließlich all jene, die das Werk schon kennen. Die 34,90 Euro sind bestens angelegtes Geld. Für dieses Referenzwerk können viele Folgeauflagen schon jetzt prognostiziert werden, denn nicht nur Historiker werden es begeistert lesen und in ihre Bibliothek aufnehmen. Sebastian Sigler

Indexbild dieses Beitrags: Ulrich v. Hassell Sueviae Tübingen vor dem Volksgerichtshof, Bundesarchiv Nr. 151-22-35