Ein wohllöblich-würdiges, fidel-fröhliches, in seiner Art einzigartiges ostdeutsches Corps wird in der zweibändigen Marcomannengeschichte lebendig. Siegfried Schunke hat eine ungemein große Fülle aus Breslau geretteten Materials zusammengetragen.
Samstag, 14. Januar 2012
Die Ereignisse im Corpsbetrieb, chronologisch geordnet, dazu SC-Comment und Biercomment bilden die sachliche Grundlage des Buches, dazu wird von manch eigentümlich-amüsanter Tradition der wohllöblichen Marcomannia berichtet. Die Mischung stimmt. Es ehrt den Herausgeber, daß er sein Werk bescheiden mit „Geschichten über Marcomannia und Marcomannen“ übertitelt hat. Nicht nur das Corps wird protraitiert, sondern auch die Kulturstadt Breslau im letzten Jahrhundert vor dem Untergang aus deutscher und dem Neubeginn aus polnischer Sicht. So erfährt der Leser aus dem Blickwinkel des Breslauer Corpsstudententums eine Menge über die drittgrößte deutsche Stadt im Zeitalter des Wilhelminismus. Ein Kaiserbesuch – Wilhelm II. anläßlich der Hundertjahrfeier der Universität nach preußischer Prägung un Reform – ist auch im Bild dokumentiert. Doch auch die schwierigen Seiten der wilhelminischen Gesellschaft, aus denen schon der Keim des Unterganges 1945 ablesbar scheint, sind dargestellt. Am eindrücklichsten vielleicht am Bericht über eine Pistolenmensur.
Semester
für Semester, Jahr für Jahr begleitet der Leser die Marcomannia durch
ihre 72 Breslauer Jahre – von 1864 bis 1936. Ausführlich wird das
Corpshaus in der Kirschallee im vornehmen Breslauer Süden, nahe dem
Kaiser-Wilhelm-Platz, behandelt. Der durch Krieg zerstörte und durch
Landnahme danach enteignete historische Bau wird sehr anschaulich
dokumentiert. Die Szenerie, vor der sich das Aktivenleben der
Marcomannia abspielte, wird so lebendig, daß der begeisterte
Corpsstudent heutiger Tage Lust bekommt, das alte Breslauer
Marcomannenhaus wieder aufzubauen – wo auch immer.
Deutlich ist im zweiten Band, der die Ereignisse ab 1918 abbildet, die schwierige Lage nach dem Ersten Weltkrieg dokumentiert. Nicht erst 1945 ging Schlesien verloren, es war vielmehr ein Wunder, daß die Gefahren der Jahre 1919 bis 1922 abgewendet werden konnten. Grell wirken dagegen die Belustigungen der aktiven Marcomannen in ihrer bierseligen Unschuld – vom gelegentlichen Rausch abgesehen. Auch die finale, schicksalhafte Verdüsterung unter der Bedrohung des Nationalsozialismus und dem hereinbrechenden Unheil des Krieges und der einem Völkermord nahekommenden Vertreibung ist aus den von Schunke zusammengetragenen Dokumenten zu bemerken.
Ein Kompliment geht an den Herausgeber. Die große Marcomannengeschichte ist gut gelungen, eine Fülle an Dokumenten und Informationen erbringt ein vollständiges Bild. Auch statistische Angaben fehlen nicht. Allerdings bringt das zweibändige Werk auch einige Nachteile eines broschierten Werkes mit, es wirkt vom Layout her unübersichtlich und in einigen Passagen etwas „handgestrickt“, manches Dokument hätte sogar eine Überarbeitung in puncto Qualität der Wiedergabe verdient gehabt. Bedauerlich auch, daß Seitenzahlen doppelt vorkommen. Aber das schmälert nicht das Vergnügen, denn lesbar ist am Ende alles, und der Ertrag an Wissen für den Leser ist groß. Nicht zuletzt macht der Verkaufspreis beiden Bände zu einem Schnäppchen.
Siegfried Schunke, Geschichten über Marcomannia und Marcomannen, hrsgg. vom Corps Marcomannia Breslau, zwei Bände zu 476 (480) und 403 Seiten, Privatmonographie, Lüneburg 2004, beim Autor zu bestellen für zusammen 10 Euro.