24. November 1974. In Addis Abeba ist Revolution. Asserate Kassa, der Vater von Prinz Asfa-Wossen Asserate, wird hingerichtet. Dieser ist zum Studium in Deutschland. Schwäbisch-romantische Gemütlichkeit, viele Freundschaften, ein fideles Leben als Inaktiver des Corps Suevia Tübingen. Wenn da nicht die Sorgen gewesen wären um die Heimat, um Mutter und Schwester, die in der Heimat gefangengehalten wurden.
1975, im Jahr darauf, beantragte Prinz Asserate Asyl in Deutschland. Als Angehörigem des Kaiserhauses droht ihm in der Heimat die Hinrichtung. Der Corpsstudent war damals einer der ersten Asylbewerber und einer von wenigen, denn damals konnte man die jährlich eintreffendenden Asylbewerber in ganz Deutschland noch an einer Hand abzählen.
Heute, in den Zeiten der Flüchtlingskrise, meldet sich Asserate wieder zu Wort. Viele Zahlen stehen am Anfang seines bei Propyläen erschienenen Buches, große Zahlen. Hunderttausende sind es heute, die Asyl suchen. Und so beginnt Asserate sowohl seine zahlenmäßigen als auch seine überaus kundigen Schilderungen historischer Zusammenhänge mit einem Rückgriff bis in die Spätantike, in die Zeit, die im klassischen Schulunterricht als „Völkerwanderung“ bezeichnet werden. Der Bogen, den Prinz Asserate spannt, ist weit. Er reicht buchstäblich von der einen Völkerwanderung zur anderen.
Ist es ein zum Thema passender Hinweis, den Prinz Asserate gibt, wenn er schreibt, dass die ältesten Hominiden, die bekannt sind, in Ostafrika gefunden wurden? Dass sich von dieser Weltgegend aus die Vorväter aller Menschen auf den Weg machten? Der Hinweis ist, so gesehen, mehr als erlaubt. Kürzer könnte man die Linie kaum ziehen, die Folgerung ist klar: Respekt gegenüber diesen Menschen tut not, Respekt gegenüber allen Menschen. Nachdem alle Menschen – offenbar – von Vorfahren abstammen, die im Osten Afrikas lebten, sind seit rund sechs Millionen Jahren, seit der älteste Hominide, Dinknesh, in dort lebte, Menschen aus Ostafrika weggegangen. Das ist ein guter Wissenshintergrund, wenn es auch freilich noch keine politische Erklärung heutiger Migration ist.
Das erste Kapitel nutzt Asserate zur Einführung in das Thema. Nach der geschichtlichen folgt eine örtliche und eine soziologische Herleitung des Begriffes Migration, beides sehr sorgfältig. Interessant ist, dass die US-Regierung das Gebiet, in dem heutzutage muslimische Versuche, Staaten in rein muslimische Gesellschaften zu wandeln, der „Bogen der Instabilität“ betitelt hat. Auf den Folgeseiten zählt Asserate dann alle muslimischen Terrororganisationen auf, die dafür verantwortlich sind. Aber er spricht keine einzige Beschuldigung aus. Das muss er auch nicht – gut, dass er das weiß. Die Fakten sprechen für sich. Ein ebenso interessanter Hinweis, dass nicht zwischen Asylsuchenden und Wirtschaftsmigranten unterschieden werden sollte, wenn es um die Rechtfertigung der Fluchtursachen geht, fehlt ebenfalls nicht. Das zweite Kapitel – Kolonialismus. 42 Seiten Allgemeinwissen. Alles davon sollte bekannt sein, und zwar in diesem konzentrierten Zusammenhang.
Ex Africa semper aliquid novi
Plinius der Ältere hatte eine
klare Idee: Aus Afrika kommt immer etwas Neues. Und so überschreibt
Asserate sein drittes Kapitel. Er beschreibt wirtschaftliche Chancen,
die in der Tat in der Zusammenschau optimistisch stimmen können,
herausgegriffen sei das Wirtschaftswachstum Äthiopiens, das – in quasi
chinesischen Verhältnissen – in den letzten zwölf Jahren kontinuierlich
um mindestens acht Prozent zugelegt hat. Mithin hat sich das
Bruttoinlandsprodukt dieses Landes seitdem mehr als verdoppelt. Zugleich
ist in Äthiopien ein Staudamm geplant, der den Assuan-Damm in Ägypten
an Fassungsvermögen und Stromausbeute um das vierfache übertreffen soll.
Dies alles gewinnt vor der von Prinz Asserate ebenfalls schonungslos
geschilderten Hungerkrise, ebenfalls in seinem Heimatland, eine bizarre
Bedeutung, denn einerseits gehen die Segnungen der Technik und der
Medizin an den meisten Menschen vorbei, andererseits könnte genau mit
deren Ausbau die nachhaltige Verbesserung ihres Lebensstandards erreicht
werden. Eine schwierige Zwickmühle – der Autor zeigt sie sachlich und
genau. Plinius wusste, dass aus Afrika immer etwas Neues kommt. Momentan
sind es Millionen von Rosen, die auf gepachteten Plantagen wachsen –
Landgrabbing und Kinderarbeit sind riesige Themen in Äthiopien.
Asserate weiß aber auch, was
es in den nächsten Jahrzehnten ist: viele, viele Millionen Menschen. Die
Bevölkerungsexplosion, die weitgehend ungebrochen ist, sowie die
korrupten, diktatorischen Herrschaftssysteme auf dem „schwarzen“
Kontinent, benennt er als große Herausforderungen, übrigens nicht nur
für den Kontinent selbst. Ein Blick auf Äthiopiens Nachbarland Somalia,
aber auch auf Simbabwe, zeigt die Größe dieser Herausforderung. Zu
Eritrea dem nordöstlich seiner Heimat gelegenen Küstenland, sagte
Asserate der FAZ: „Ein Drittel der Bevölkerung ist mittlerweile aus
diesem Land geflohen, das vor einigen Jahrzehnten mit großen Hoffnungen
in die Unabhängigkeit aufbrach. Heute ist Eritrea eine der schlimmsten
Diktaturen der Welt. Es gibt keine Pressefreiheit, keine
Religionsfreiheit, keine Versammlungsfreiheit. Der gesamte private
Sektor wurde de facto abgeschafft. Es gibt keine Verfassung, keine
unabhängige Justiz, keine Rechtsstaatlichkeit. Die Regierung wird
beschuldigt, Menschen massenweise, mit großer Willkür, ohne Prozess und
unter menschenunwürdigen Bedingungen einzukerkern und zu foltern.“
„Afrikas Hoffnung verlässt den Kontinent!“
Eritrea ist nur ein Beispiel.
Wie so viele kundige Beobachter ist auch Prinz Asserate tief besorgt
wegen der Ausbreitung des Islam in Afrika; er weiß dabei aber
Extremismus und religiös empfundene Glaubenspraxis voneinander zu
unterscheiden: „Fortschreitender religiöser Fundamentalismus ist in der
Tat die zweitgrößte Herausforderung, der wir in Afrika begegnen. Wie
werden wir mit dem extremistischen Islam fertig? Was wird aus Nigeria
und der terroristischen Boko Haram? Was aus Al Shabaab in Somalia? Die
Lösung liegt bestimmt nicht darin, dass wir die Religiosität ausmerzen.
Die Religion ist ein wesentlicher Bestandteil der afrikanischen Seele
(…) – ich jedenfalls habe noch keinen Afrikaner kennengelernt, der an
gar nichts glaubt.“ Risiko und Chance liegen dicht beieinander, gerade
auch in Afrika.
Teil vier des Buches benennt
schließlich die Verantwortung Europas, denn viele Diktatoren in Afrika
werden aus unterschiedlichen Gründen, oft aber wegen der Rohstoffe in
ihren Ländern, mit europäischem Geld alimentiert. Ausführlich beleuchtet
er die Facetten der Flüchtlings- und Migrationsproblematik. Und
Asserate weiß, wie man Afrika wirksam helfen kann: „Die beste
Entwicklungshilfe sind gute Wirtschaftsbeziehungen – wenn sie denn auf
Augenhöhe stattfinden.“ Und er benennt als Positivbeispiel John
Magufuli, der Tansania umkrempelt, hin zu sozialer Gerechtigkeit.
Die Studie, die Prinz
Asserate zu Afrika vorlegt, ist knapp und schlüssig formuliert und
verleiert sich nicht in einer Vielzahl von Beispielen, sondern benennt
klar Ursachen, Wirkungen und Auswege. Am 4. Oktober, zehn Tage vor
Erscheinen seines wegweisenden Buches, wurde dem ehemaligen
Asylbewerber, dem wirklichen Flüchtling Asfa-Wossen Asserate das
Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. In der Begründung auf der Seite
des Bundespräsidenten heißt es, der Prinz aus Äthiopien sei ein
herausragender Vermittler zwischen den europäischen und afrikanischen
Kulturen. Darüber hinaus seien sein Wissen und seine Erfahrung auch zu
Fragen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in Afrika, zur
Verantwortung Europas und zu aktuellen Ereignissen immer wieder gefragt.
Dem ist nichts hinzuzufügen – außer, dass dieses Buch nun für alle, die
sich sachlich mit der Flüchtlingskrise und den Fragen der Migration
beschäftigen möchten, hier eine Pflichtlektüre haben, die sich im
übrigen ausgezeichnet zur Weitergabe an Lernende und als Lektüre für
Schulen eignet. Ein größeres Lob kann über ein Buch kaum ausgesprochen
werden.
Asfa Wossen Asserate, Die neue Völkerwanderung, Berlin 2016, 220 Seiten, geb., 18,99 Euro, ISBN 978-3-84371456-3.