Ein wenig beachtetes Kapitel der Studentengeschichte

Es  war wirklich an der Zeit, auf eine vielfache Verflechtung hinzuweisen.  Bedeutende Sozialdemokraten, die Vordenker der sozial motivierten  Gerechtigkeit in den Zeiten des frühen ungezähmten Kapitalismus waren  Mitglieder studentischer Korporationen. Zu ihnen gehörten Ferdinand  Lassalle, Wilhelm Liebknecht, Eduard David, Karl Barth, Paul Tillich,  Fritz Bauer, Ludwig Bergsträsser, Detlef Carsten Rohwedder. „Für sie  vertraten SPD und Korporationen ähnliche Überzeugungen: gelebte  Solidarität, eine demokratische Diskussionskultur, lebenslange  Weggenossenschaft“, schreibt der Dietz-Verlag, bei dem das von Manfred  Blänkner und Axel Bernd Kunze herausgegebene Werk erschienen ist. Völlig  zurecht.
Der vorliegende Band 
dokumentiert anhand von 20 Kurzbiographien dieses enge Verhältnis von 
Sozialdemokraten und Korporationen. Den Anfang macht ein Aufsatz über 
Ferdinand Lassalle, der mit Liebe zum Detail gestaltet wurde. Das wird 
diesem wilden Gründervater der Sozialdemokratie auch gerecht, weniger 
wäre zu wenig gewesen.
Die Herausgeber haben nur 
Biographien von denjenigen in der Sozialdemokratie berücksichtigt, die 
ihren Verbindungen lebenslang treugeblieben sind. Dieses Prinzip sollte,
 wenn eine erweiterte Auflage angedacht wird, gründlich hinterfragt 
werden. Ist es nicht entscheidend, daß sich ein Student dazu 
entschlossen hat, einer Verbindung beizutreten? Sind nicht die 
Prägungen, die er dadurch erfahren hat, in aller Regel bleibend? Nicht 
selten entwickeln sich jedoch Verbindungen von ihren alten Prinzipien 
weg in eine neue Richtung, nicht jeder möchte dann vielleicht mitgehen. 
Der unzweifelhaft verdienstvolle Sozialdemokrat Gunter Huonker, der 
seine Freiburger Franconia 1981 verlassen hat, während er – immerhin! – 
Staatsminister bei Bundeskanzler Helmut Schmidt war, er hätte Erwähnung 
finden sollen.
Etwas zu kurz kommt die 
Zeit des Nationalsozialismus. Rudolf Breitscheid zum Beispiel fehlt. 
Dies umso mehr, als der Widerstandsmann Abegg erfreulicherweise einen 
Platz im Band erhalten hat, „obwohl“ er zum linksliberalen Spektrum 
gehörte. Wichtig dagegen die Personalie Fritz Bauer. Und ausgezeichnet 
die Aufklärungsarbeit im Falle Aron – ein NS-Mord an einem korporierten 
Sozialdemokraten, der bisher unverständlicherweise viel zu wenig 
beachtet und bearbeitet wurde.
Aber es fallen weitere 
Lücken auf: Für die Nachkriegszeit fehlt der für seine Stadt und das 
neue Bundesland Baden-Württemberg enorm prägende Freiburger 
SPD-Oberbürgermeister Eugen Keidel, ein Freiburger Rhenane. Das ist umso
 bedauerlicher, als sein wesentlich älterer Corpsbruder Wilhelm Blos 
gewürdigt wird – hier wird also auch versäumt, eine Kontinuität 
aufzuzeigen. Auch auf Friedhelm Farthmann, der der Königsberger 
Burschenschaft Gothia zu Göttingen angehört, hätte keinesfalls 
verzichtet werden dürfen. Schließlich blieben sie ihren Verbindungen  
immer treu. So bleibt wohl festzuhalten: eines der größten Kunststücke 
bei solch Sammelbänden ist es, zu erkennen, wann der Band „rund“ ist, 
also eine für seinen Zweck passende und für den Leser zufriedenstellende
 Faktenfülle vereint, also einen Personenkreis mit Vollständigkeit 
erschließt. Und wo die meisten Herausgeber diese Linie zu spät ziehen, 
wurde hier der Sack zu früh zugemacht. Diese Unvollständigkeit könnte 
indes durch eine zweite Auflage, für die noch genügend Biographien 
warten – Keidel ist nur ein Beispiel! –, leicht geheilt werden.
Trotzdem: Der gemachte 
Anfang bietet schon jetzt sehr viel Lesefreude. Der Band wird abgerundet
 mit einem Aufsatz von Peter Brandt zum Erbe der Urburschenschaft sowie 
Berichten und Essays zum heutigen Verhältnis zwischen der SPD und 
studentischen Verbindungen. Das ist Letztere ist offenkundig dringend 
nötig, und es zeigt die vielleicht wichtigste Richtung, in die dieser 
Band weist: Er ist erkennbar insbesondere von Genossen für Genossen 
geschrieben. Der teils apologetische Unterton der Beiträge in diesem 
Band legt das zumindest nahe.
Ein Vorwort für den 
insgesamt von der optischen Anmutung und der Textqualität her 
ansprechenden Band steuerte Erhard Eppler bei. Das ist bemerkenswert. 
Der Grandseigneur der Südwest-SPD ordnet die Korporationszugehörigkeit 
und die Sozialdemokratie in ihrem Verhältnis zueinander wohltuend 
unaufgeregt – und im übrigen faktisch völlig richtig – ein. An Eppler 
könnten sich die Jusos ein Beispiel nehmen. Kecker könnte man 
formulieren: Jusos und andere von gewissen Gewerkschaften beeinflusste 
Sozialdemokraten könnten sich auch an der Mehrzahl der rund 1.100 
bestehenden Verbindungen ein Beispiel nehmen. Speziell an den 
Verbindungen, die sich – allerdings anders als die JUSOS bei völliger 
politischer Neutralität – die Toleranz gegenüber Andersdenkenden als 
oberstes Prinzips auf die bunten Fahnen geschrieben haben. 
So bleibt es dem 
Rezensenten nicht erspart, trotz des Lobes auch Mahnungen auszusprechen.
 Ein formeller und bindender Unvereinbarkeitsbeschluss gegen 
Studentenverbindungen, die ihrerseits tolerant sind, ist so ungefähr das
 Schlechteste, was sich die SPD antun könnte, falls sie als Volkspartei 
ernstgenommen werden möchte. Das erfahren Juso-Vertreter in diesem Band,
 und sie erfahren, so wie jeder Leser, noch viel mehr. Denn die 
Herausgeber Blänkner und Kunze haben ein bemerkenswertes Buch vorgelegt,
 aber dies sollte nur ein erster Schritt sein. Einen zweiten Band oder 
eine deutlich erweiterte zweite Auflage sollten sie unbedingt ins Auge 
fassen. 
Manfred Blänkner / Axel Bernd Kunze (Hg.), Rote Fahnen, bunte Bänder: Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute, Dietz-Verlag Bonn 2016, 320 Seiten broschiert, 22,90 Euro, ISBN: 978-3-8012-0481-5