Saxonia Göttingen: ein außergewöhnliches Corps

By | 2. April 2018

„Die Vorteile des gewesenen Corpsstudenten, insbesondere eines Göttinger Sachsen, für mich und mein berufliches Leben konnten kaum überschätzt werden.“ Diese Selbstreflexion eines adeligen, preußischen Landrats für seinen Entschluss, im Corps Saxonia aktiv zu werden, setzt der Wallstein-Verlag über seine Werbung für die Promotionsschrift von Manuel Weskamp, die dort unter dem Titel „Ehre – Frohsinn – Eintracht“ erschienen ist.

Der Verlag fragt weiter: „Wieso galt das Corps für ihn als Schlüssel zum Erfolg? Wie wurde aus einem zeitlich begrenzten Zusammenschluss von ein paar bunt zusammengewürfelten Studenten an der beschaulichen hannoverschen Landesuniversität Göttingen eine der führenden Adressen für protestantische, nordostdeutsche Adelsfamilien, wenn es galt, ihre Söhne zum Studieren zu schicken?“

Ein reizvoller thematischer Rahmen

Nicht weniger als „eine der führenden Adressen für protestantische, nordostdeutsche Adelsfamilien“ – das war Göttingen. Hier entstand ein mehrere Generationen umspannendes Netzwerk rund um eine Universität, das maßstabgebend für eine ganze Region war und das mit demjenigen von Universitäten wie Heidelberg, Jena oder Halle auf Augenhöhe rangierte. Dr. Manuel Weskamp stellt vor diesem Kontext in seiner jüngst von Professor Dr. Matthias Stickler, dem Leiter in des Instituts für Hochschulkunde betreuten Promotionsschrift eine Untersuchung der Geschichte des Corps Saxonia an, und zwar „zur Genese und Instandhaltung eines exklusiven, vom Adel geprägten, generationenübergreifenden Netzwerks“.

Die Corps etablierten sich ab dem späten 18. Jahrhundert als exklusive Netzwerke innerhalb des großen sozialen Gefüges, das die Universität darstellte. In Göttingen gelang es dabei der Saxonia – obschon deutlich jünger als die Corps Hannovera, Brunsviga und Bremensia –, eine besonderes Maß an Exklusivität aufzubauen. Gründe dafür und Wirkungen daraus hat, soviel sei vorweggenommen, der Autor in vielerlei Aspekten sichtbar gemacht, mit „summa cum laude“ wurde dies für seine Promotion gewürdigt. Die „Längsschnittstudie über das Corps Saxonia“, die vom Verlag annonciert wird, ist in allen Aspekten gelungen. Das überregional angesehene Kösener Corps wurde „basierend auf Mitgliederstatistiken und erstmals erschlossenem Archivmaterial die Entstehung, Etablierung und Verfestigung einer aus heutiger Perspektive in mancherlei Hinsicht ungewöhnlichen Gemeinschaft untersucht“. Die Untersuchung ist umfassend und sehr gründlich, die Anlage der Kapitel läßt keine Wünsche offen. Ein gut gelungener, praktisch anwendbarer Überblick über den Forschungsstand steht am Beginn des Werkes. Die beiden großen Abschnitte der Arbeit behandeln dann erstens die Geschichte der Saxonia und zweitens das Funktionieren dieses Netzwerks über die Generationen hinweg. Insgesamt untersucht wurde übrigens die Zeit 1840 und der formellen Gründung 1844 bis 1951, dem Zeitpunkt des Wiedererstehens nach dem Verbot und der zeitweiligen Auflösung im NS-Staat – sozusagen ein langes Gründungsjahrhundert.

Die Corpsgeschichte

Die Gründungsgeschichte der Saxonia ab 1840 mit ihrem landsmannschaftlichen Ursprung und der 1844 erfolgten Hinwendung zum Corpsprinzip schildert Weskamp knapp und schlüssig. Er präsentiert sich hier als Fachmann, der die Materie vorbildlich beherrscht. Die frühe Geschichte schildert er ebenfalls sehr kundig und solide, allerdings hat er nicht alle Details im Blick – ein Beispiel: Weskamp nennt das Kartell zwischen Borusia Bonn und Saxo-Borussia Heidelberg, das 1828 abgeschlossen wurde, das „wahrscheinlich älteste Kartell im KSCV“. abgesehen davon, daß der KSCV erst 1848 gegründet wurde: es gab bereits ab 1796 zwischen den Corps Guestphalia Halle, der ersten Guestphalia in Erlangen sowie weiteren „Westphälingern“ durchaus Kartelle, und 1821 wurde sogar ein „eisernes“ Kartell zwischen den Corps Bavaria Landshut und Bavaria Erlangen geschlossen – um nur zwei Beispiele zu nennen. Doch das sind minimale Unzulänglichkeiten, sie trüben nicht das Bild. Zumal es Weskamp gelungen ist, auch die folgenden Jahrzehnte, für die Blütezeit das Bild von Saxonia faktensicher und mit großer Souveränität dieses Bild zu zeichnen: das eines selbst für die Verhältnisse des KSCV außergewöhnlichen Corps.

Was die objektive Sicht auf die Korporationsgeschichte im 20. Jahrhundert betrifft, kann Weskamp ebenfalls nur bescheinigt werden, daß er sich absolut auf der Höhe des Forschungsstandes befindet. Bereits für die Zeit ab 1919 bearbeitet er die Diskussionen um den Kampf gegen den Bolschewismus und auch den Antisemitismus. Die ab 1925 immer gravierender sichtbare Judenfeindlichkeit, die sich Saxonia im übrigen weniger krass ausbildete als andernorts, stellt er in aller Deutlichkeit dar. Den moralisierend erhobenen Zeigefinger erhebt er nicht, was als Beweis für wissenschaftliche Reife gewertet werden kann. Trotzdem kommt auch Weskamp nicht um das bedrückende Urteil herum, daß das aktive Corps bei Saxonia am Vorabend der nationalsozialistischen Machtergreifung durchaus politisiert war – wie übrigens der preußische Adel insgesamt. Und wie dieser waren die jungen Sachsen mehrheitlich aufgeschlossen war für die Ideen des aufkommenden Nationalsozialismus. Das Aufkommen des Nationalsozialismus, die durch äußeren Druck erzwungene Gleichschaltung, die teils blauäugige, teils willfährige, teils – intern – deutlich widerstrebende Reaktion darauf: All dies dokumentiert Weskamp in vorbildlicher Weise. Allein schon diese Passage des Buches genügte, um es mit einer Empfehlung für alle jungen Corpsstudenten auszuzeichnen: „Lektüre unbedingt zu empfehlen!“

Daß sich diese Saxonia, die so sehr auf Exklusivität setzte, unter dem Druck des aufkommenden Nationalsozialismus nicht von ihrem gesellschaftlichen Kontext abhob, ist nur auf den ersten Blick eine unspektakuläre Erkenntnis Weskamps. Denn sehr lange ist im studentenhistorischen Kontext rund um die Korporationen allgemein und speziell auch aus den Corps heraus ein unkritischer, fast schon hagiographischer Tonfall stilprägend gewesen. Die neue und von Weskamp mitgetragene und weitergeschriebene Klarheit nützt nicht nur seiner Arbeit, sondern ganz direkt auch dem Corps Saxonia Göttingen. Diejenigen unter den Corpshistorikern, die über eine unverstellte Sicht verfügen – und das ist die große Mehrheit –, wird Weskamps Werk ebenfalls sehr begrüßen

Klarer Standpunkt zum ernsten Thema

Mit Adam v. Trott zu Solz und Fritz-Dietlof Graf v. der Schulenburg hat Saxonia zwei Widerstandkämpfer gegen den Nationalsozialismus in ihren Reihen. Damit ist die Frage nach dem Widerstand gegen das NS-Regime aus dem Corps Saxonia heraus berechtigt. Weskamp widmet sich dieser Frage mit Ernst und Sorgfalt. Er kommt gut begründet zu diesem Ergebnis: „Die Mitgliedschaft in einer elitären Gruppe, wie dem Corps Saxonia, war nicht der Grund für den Weg in den Widerstand.“ Das ist klar, sehr desillusionierend und – das Urteil sei gestattet – völlig zutreffend. Der Rezensent hätte sich lediglich gewünscht, daß das widerständige Milieu, das bei Saxonia vor allem im Bereich der Diplomaten durchaus erkennbar ist und das Weskamp auch mit einigen Bemerkungen streift, etwas ausführlicher gewürdigt worden wäre. Vor allem wäre die Frage zu diskutieren gewesen, ob nicht eine Persönlichkeit wie Hasso v. Etzdorf, der auch dem Corps Pomerania Greifswald angehörte, doch als „echter“ Widerstandskämpfer zu gelten hat, auch wenn er mit dem Stauffenberg-Attentat vom 20. Juli 1944 nichts zu tun hatte.

Für Etzdorf wie für einige weitere Göttinger Sachsen gilt, was auch andernorts beachtet werden sollte – daß die Wege und Formen des Widerstands höchst vielfältig sind. Zum vergleich sei verwiesen auf die Geschwister Scholl, deren Widerstandstat außer dem Verfassen von Texten im wesentlichen in der anonymen, natürlich nach nationalsozialistischer Lesart strikt illegalen Verbreitung derselben bestand. Hier hat sich Weskamp über eine jahrzehntelang geübte Praxis nicht hinausgewagt. – Dies ist aber lediglich als Anmerkung zu werten. Der übergreifenden Aussage, daß sich der Autor objektiv, ernsthaft und kundig dem schwierigen Thema genähert hat, bleibt bestehen

Die Frage nach dem Adel

Der zweite Teil der Weskampschen Promotionsschrift widmet sich dem eigentlichen Forschungsgegenstand: „Selbstverständnis, Mitgliederrekrutierung und Karrieremuster von Akademikern am Beispiel des Corps Saxonia Göttingen (1840 – 1951)“: so der vollständige Untertitel des Werkes. Sowohl bei der Herleitung des Sinnes der Statuten als auch bei der Schilderung des Aktivenlebens – hier speziell den Muster der Rekrutierung von Füchsen – beweist er enormes Fachwissen. Wer selbst korporiert ist, wird mit steigender Begeisterung diesem Panoptikum, diesem Einblick in das Innenleben eines gewiß hervorgehobenen, eines besonders vornehmen Corps lesen. Ein ausgezeichneter Einblick! Korporierte, zumal Corpsstudenten, werden diese Begeisterung doppelt empfinden, wissen sie doch aus eigener Erfahrung, worum es hier geht. Weskamp hat es in diesem Teil verstanden, die gute Lesbarkeit mit der fachlich-korrekten Information in Übereinstimmung zu bringen. Nicht nur der Promotionsausschuß, sondern auch der Leser, mutmaßlich spätabends mit einem guten Bier oder Rotwein versehen, wird hier nicht umhin kommen zu sagen: „summa cum laude“!

Die soziologische Untersuchung in mit dem starken Fokus auf prozentuale Anteile adeliger und nicht adeliger Mitglieder und – fortgeführt – die Anteile adeliger und nichtadeliger Rittergutsbesitzer ist für die Erforschung der nachständischen Gesellschaft des 19. Jahrhundert sicher von Interesse, und hoffentlich wird diese Arbeit in dieser Fakultät und darüber hinaus auch Widerhall finden. Für die Studentengeschichte bringt diese Untersuchung den Ertrag, daß Weskamp die nicht-adeligen Studenten bei Saxonia mehrheitlich im Milieu der Gutsbesitzer und -pächter verorten konnte. Dabei ist zu bemerken, daß die Gutspächter im Laufe des 19. Jahrhunderts zur fast durchweg adeligen Schichte der Gutsbesitzer – häufig hingen alte Adelsprädikate am Besitz – aufschließen konnte. Dies ist so zu verstehen, daß immer mehr Pächter zu Eigentümern wurden, womit aber nicht immer die Nobilitierung verbunden war. Und aus diesem Mechanismus ist wieder ableitbar, wieso sich der Anteil adeliger Füchse bei Saxonia zwar stabil oberhalb der 70-Prozent-Marke hielt, wieso aber Saxonia nie ein rein adeliges Corps wurde. Und im übrigen wohl auch nicht werden wollte.

Interessant ist die Untersuchung der Einzelfrage, wieso es bei Saxonia Göttingen überhaupt erst dazu kam, daß immer mehr Adelige aufgenommen wurden. Weskamp erklärt dies mit dem Erhalt des Assoziationsrechtes, das die Studenten nach 1848 erhielten, woraus sich eine „gewisse Legitimität“ der Korporationen abgeleitet habe. Die Corps in ihrer anerkannt unpolitischen Art hätten hier am meisten profitiert, da sie einen Vorsprung an Alter und der sozialen Herkunft ihrer Mitglieder hatten. Weskamp schreibt auf Seite 375: „Die Korporationen wurden von vermeintlich staatsgefährdenden langsam zu staatstragenden Vereinigungen.“ Das ist eine feine Beobachtung, die indes auf alle Korporationen zutrifft. So bemerkt Weskamp denn auch sehr richtig, daß „der erste Anstieg des Adelsniveaus nur unzureichend begründet werden kann“. Wirklich gelöst ist diese Frage damit auch durch diese Untersuchung nicht.

Daß in einer Korporation, in der mehrheitlich Adelige aktiv waren, auch weiterhin mehrheitlich Adelige Anschluß suchten, ist dann einfach erklärlich – Weskamp tut das selbst kurz zuvor, indem er aufschlüsselt, wie stark die Mitgliederwerbung innerhalb der Familien und der direkt die Familie umgebenden sozialen Schicht stattfand. Das Habituskonzept von Pierre Bordieu schmückt eine Qualifizierungsarbeit an dieser Stelle, aber Weskamp hätte es  nicht unbedingt bemühen müssen. Das Corps Saxonia war in der untersuchten Zeit, die von 1840 bis 1951 eines der führenden Netzwerke in der bedeutenden Universitätsstadt Göttingen. Noch heute funktioniert dieses Netzwerk im übrigen – seine Führungsfunktion hat es indes verloren, es ist nur noch eines unter vielen.

Zahlreich sind die statistischen Erhebungen, und sie sind aus soziologischer und allgemeingeschichtlicher Sicht auch sehr erhellend. Für den Studentenhistoriker, der immer ein wenig in Gefahr ist, in der Kontemplation über ellenlange Namenslisten und mit Verbindungsabzeichen geschmückte Alltagsgegenstände – Studentika – zu versinken, gilt das allemal. Der Darstellungsform hätte der Verlag jedoch vielleicht etwas Liebe angedeihen lassen können – der Hauch einer Anmutung von Uni-Skript stellt sich bei der Lektüre der Ausarbeitungen in der zweiten Hälfte des Werkes gelegentlich ein. Daß diese Promotion als gebundenes Buch mit Schutzumschlag erschien, wird dagegen die vielen korporierten Leser sicher freuen, manche studentenhistorische Bibliothek wird damit um ein feines Schmuckstück reicher. Das betrifft die edel-zurückhaltende äußere Gestaltung, und hier vor allem den Einband, den ein großer, silbern geprägter Sachsenzirkel ziert; auch Details wie das blau-silberne Kapitalband sind erfreuliche Beigaben. Lediglich ein Lesefaden fehlt – angesichts der Faktenfülle wären es besser derer drei: dunkelblau, weiß und hellblau.

Fazit

Die Promotionsschrift von Manuel Weskamp ist eine umfassende und gründliche Untersuchung, eine Monographie von bleibendem Wert. „Entstanden ist ein Werk, das die Geschichte einer besonderen Studentenverbindung umfassend aus kultur- und sozialgeschichtlichem Blickwinkel betrachtet.“ So notiert es der Verlag, und dem kann zugestimmt werden. Diese Studie über Saxonia kann als beispielgebend für andere Corps – nicht nur in Göttingen – gelten. Summa cum laude!

Manuel Weskamp, „Ehre – Frosinn – Eintracht“: Selbstverständnis, Mitgliederrekrutierung und Karrieremuster von Akademikern am Beispiel des Corps Saxonia Göttingen (1840 – 1951), Göttingen 2018, 558 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 39,90 Euro. ISBN: 978-3-8353-3249-2